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METAPHYSISCHE MONOLOGE

Lyrik, die unsere Bewunderung verdient
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HENRY BERGSON ZEIT UND FREIHEIT I

Beitragvon Ralfchen » 27. Mär 2018, 00:16

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TIME
GRAFIC BY RALFCHEN 60/80 cm - 03 2018

Vorwort

Wir drücken uns notwendig durch Worte aus, und wir denken fast immer räumlich. Mit anderen Worten, die Sprache zwingt uns, unter unsern Vorstellungen dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen. Diese Assimilation ist im praktischen Leben von Nutzen und in der Mehrzahl der Wissenschaften notwendig. Es ließe sich jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die unübersteiglichen Schwierigkeiten, die gewisse philosophische Probleme bieten, daher kommen, daß man dabei beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, im Raume nebeneinander zu ordnen, und ob sich der Streit nicht oft dadurch beenden ließe, daß man von den allzu groben Bildern abstrahiert, um die er sich abspielt. Wenn eine unberechtigte Übersetzung des Unausgedehnten in Ausgedehntes, der Qualität in Quantität ins Innere der aufgeworfenen Frage selbst den Widerspruch hineinträgt, ist es dann zu verwundern, daß sich der Widerspruch in den Lösungen, die man ihr gibt, wiederfindet?
Wir haben unter den Problemen das gewählt, das der Metaphysik und der Psychologie gemeinsam ist: das Freiheitsproblem. Wir versuchen nachzuweisen, daß jede Erörterung zwischen den Deterministen und ihren Gegnern eine vorangegangene Vermengung von Dauer mit der Ausdehnung, der Sukzession mit der Gleichzeitigkeit, der Qualität mit der Quantität in sich begreift: Mit der Aufhebung dieser Vermengung würden aber vielleicht die Einwände gegen die Freiheit, ihre Definitionen und in gewissem Sinne das Problem der Freiheit selbst verschwinden. Dieser Nachweis ist der Gegenstand des dritten Teils unserer Arbeit; die beiden ersten Kapitel, in denen die Begriffe der Intensität und der Dauer einer Untersuchung unterzogen werden, sollen dem dritten Kapitel als Einführung dienen.

Februar 1888 Henri Bergson


I. Von der Intensität der psychologischen Zustände


Man nimmt gewöhnlich an, daß die Bewußtseinszustände: Empfindungen, Gefühle, Affekte und Willensanstrengungen, zu- und abnehmen können; einige versichern uns sogar, daß eine Empfindung zwei-, drei-, viermal so intensiv genannt werden kann als eine andre Empfindung von gleicher Natur. Wir werden diese letztere Behauptung, die die These der Psychophysiker ist, späterhin untersuchen; selbst die Gegner der Psychophysik aber sehen nichts Unrichtiges darin, von einer Empfindung zu sprechen, die intensiver sei als eine andre Empfindung, von einer Willensanstrengung, die größer sei als eine andre Willensanstrengung, und auf diese Weise zwischen rein inneren Zuständen quantitative Unterscheidungen aufzustellen. Der gemeine Verstand erklärt sich übrigens ohne die geringste Bedenklichkeit über diesen Punkt: man sagt, es sei einem mehr oder weniger warm, man sei mehr oder weniger betrübt, und diese Unterscheidung von mehr oder weniger nimmt niemanden Wunder, auch wenn man sie ins Gebiet subjektiver Tatsachen und unausgedehnter Dinge hinein fortsetzt. Hier liegt indessen ein sehr dunkler Punkt und ein Problem von größerer Tragweite, als man sich allgemein vorstellt.
Wenn man behauptet, eine Zahl oder ein Körper sei größer als ein andrer, weiß man allerdings sehr wohl, wovon man spricht; denn in beiden Fällen ist von ungleichen Räumen die Rede, wie wir später im einzelnen ausführen werden, und man nennt größer den Raum, der den andern enthält. Wie aber sollte eine intensivere Empfindung eine solche von geringerer Intensität enthalten können? Wird man uns etwa erwidern wollen, die letztere sei in ersterer inbegriffen, die Empfindung der höheren Intensität werde nur unter der Bedingung zu erreichen sein, daß zuvor geringere Intensitätsgrade derselben Empfindung durchlaufen worden sind, und daß es sich also auch hier wieder in gewissem Sinne um das Verhältnis zwischen einem Enthaltenden und Enthaltenen handle? Diese Auffassung von der intensiven Größe scheint die des gemeinen Verstandes zu sein: man kann sie aber nicht zum Range einer philosophischen Erklärung erheben, ohne geradezu einen Zirkelschluß zu begehen. Es ist nämlich unbestreitbar, daß eine Zahl mehr ist als eine andre, wenn sie in der natürlichen Zahlenreihe ihren Platz hat nach ihr; man hat aber die Zahlen in anwachsender Reihenfolge anordnen können, eben weil zwischen ihnen Beziehungen von Enthaltendem und Enthaltenem bestehen und weil man sich imstande fühlt, genau zu erklären, in welchem Sinne die eine größer ist als die andre. Die Frage ist dann, zu wissen, wie es uns denn gelingt, eine derartige Reihe mit intensiven Größen zu bilden, die ja nicht aus Dingen bestehen, die aufeinander gelegt werden können, und woran wir denn erkennen, daß die Glieder dieser Reihe z.B. anwachsen, statt abzunehmen; und das läuft allemal auf die Frage hinaus, weshalb eine intensive Größe einer extensiven vergleichbar sei.

Es hieße der Schwierigkeit nur aus dem Weg gehen, wenn man, wie es gewöhnlich geschieht, zwei Arten von Quantität unterscheiden wollte, die eine extensiv und meßbar, die andere intensiv und eigentlicher Messung nicht zugänglich, dabei aber doch so beschaffen, daß man von ihr trotzdem noch sagen kann, sie sei größer oder kleiner als eine andre Intensität. Denn es wird damit anerkannt, daß diese beiden Formen von Größen etwas Gemeinsames haben, da man sie ja beide Größen nennt und in gleicher Weise anwachsen und abnehmen läßt. Was aber könnte es, vom Gesichtspunkte der Größe aus, zwischen dem Extensiven und dem Intensiven, dem Ausgedehnten und Unausgedehnten Gemeinschaftliches geben? Nennt man die größere Quantität im ersteren Falle die, die die andre enthält, weshalb spricht man auch dann noch von Quantität und Größe, wenn weder ein Enthaltendes noch ein Enthaltenes mehr vorhanden ist? Wenn eine Quantität wachsen und abnehmen kann, wenn man bei ihr das weniger sozusagen im Schoß des mehr erblickt, ist sie dann nicht eben deswegen teilbar, ausgedehnt? Und liegt dann nicht ein Widerspruch vor, wenn wir von inextensiver Quantität reden? Dennoch kommt der gemeine Verstand mit den Philosophen darin überein, ein rein Intensives zur Größe zu machen, genau wie ein Ausgedehntes. Und nicht nur gebrauchen wir dasselbe Wort, sondern wir empfinden auch einen analogen Eindruck in beiden Fällen, ob wir nun an ein größeres Intensives denken oder ob es sich um ein größeres Ausgedehntes handelt; die Bezeichnungen »größer« und »kleiner« rufen jedenfalls in beiden Fällen dieselbe Vorstellung hervor. Fragen wir uns nun, worin diese Vorstellung besteht, so liefert uns das Bewußtsein abermals das Bild von einem Enthaltenden und einem Enthaltenen. Wir stellen uns z.B. eine größere Intensität der Willensanstrengung wie eine größere Länge zusammengerollten Drahtes, wie eine Sprungfeder vor, die einen größeren Raum einnehmen wird, wenn ihre Spannung nachläßt. In der Vorstellung eines Intensiven und selbst in dem Worte, das sie wiedergibt, liegt das Bild einer gegenwärtigen Zusammenziehung und folglich einer künftigen Ausweitung, das Bild einer virtuellen Ausgedehntheit, wenn man so sagen könnte, eines zusammengepreßten Raumes. Wir müssen also glauben, daß wir das Intensive ins Extensive übersetzen und daß die Vergleichung zweier intensiver Größen sich vollzieht oder wenigstens ausgedrückt wird durch die verworrene Anschauung von einer Beziehung zwischen zwei Ausdehnungen. Schwierigkeiten scheint aber die genauere Bestimmung der Natur dieser Operation zu bereiten.

Die Lösung, die sich ohne weiteres anbietet, wenn man erst einmal auf diesem Wege weiterdenkt, würde die sein, daß man die Intensität einer Empfindung oder irgendeines Zustandes des Ich durch die Zahl oder Größe der objektiven und somit meßbaren Ursachen definiert, die sie hervorgerufen haben. Es ist nicht zu bestreiten, daß eine intensivere Lichtempfindung die ist, die man durch eine größere Anzahl von Lichtquellen erhalten hat oder erhalten würde, wobei man sich diese als aus gleicher Entfernung winkend und untereinander identisch zu denken hätte. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber sprechen wir ein Urteil Fiber die Intensität der Wirkung aus, ohne auch nur die Natur der Ursache zu kennen, geschweige denn ihre Größe; oft sogar führt uns die Intensität der Wirkung dazu, aufs Geratewohl eine Hypothese über die Zahl und Natur der Ursachen zu bilden und dadurch eine Berichtigung des Urteils unserer Sinne herbeizuführen, die sie uns zuerst als unbedeutend dargestellt hatten. Umsonst wird man dagegen geltend machen, daß wir in diesem Falle den gegenwärtigen Zustand des Ich mit irgendeinem früheren Zustand vergleichen, wo gleichzeitig mit dem Erleben der Wirkung die Ursache als Ganzes wahrgenommen wurde. In einer sehr großen Anzahl von Fällen verfahren wir allerdings auf diese Weise; aber man erklärt damit nicht die Intensitätsunterschiede, die wir zwischen den tiefer gelegenen psychologischen Vorgängen aufstellen, die aus uns selbst hervorgehen und keine äußeren Ursachen mehr haben. Andererseits sprechen wir uns gerade dann am zuversichtlichsten über die Intensität eines psychischen Zustandes aus, wenn der subjektive Aspekt des Phänomens allein unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht oder wenn die äußere Ursache, woran wir ihn geknüpft denken, sich nicht eigentlich als meßbar erweist. So erscheint es uns selbstverständlich, daß man beim Ausziehen eines Zahnes einen intensiveren Schmerz empfindet als beim Ausreißen eines Haares; der Künstler weiß über allen Zweifel, daß das Gemälde eines Meisters ihm ein intensiveres Vergnügen gewährt als ein Ladenschild; und man braucht nicht erst von Kohäsionskräften gehört zu haben, um behaupten zu können, daß es weniger Anstrengung kostet, eine Stahlklinge zu biegen als einen Eisenstab zu krümmen. So wird also die Vergleichung zweier Intensitäten größtenteils ohne die geringste Rechenschaft über die Zahl der Ursachen, die Art ihres Wirkens und ihre Ausdehnung vollzogen.

Es bliebe hier allerdings noch eine subtilere Hypothese derselben Art möglich. Es ist bekannt, daß die mechanistischen und hauptsächlich die kinetischen Theorien darauf hinausgehen, die uns wahrnehmbaren und fühlbaren Eigenschaften der Körper durch genau bestimmte Bewegungen ihrer elementaren Teile zu erklären, und einige sehen schon den Zeitpunkt voraus, wo die intensiven Unterschiede der Qualitäten, d.h. unserer Empfindungen sich auf extensive Unterschiede zwischen den Veränderungen werden zurückführen lassen, die dahinter stattfinden. Vielleicht dürfte es nun zulässig sein zu behaupten, daß wir, ohne diese Theorien zu kennen, sie dunkel ahnen, daß wir hinter einem intensiveren Ton eine umfangreichere Vibration vermuten, die sich ins Innerste des vom Reiz getroffenen Teils fortpflanzt, und daß wir auf diese sehr genaue, wenn auch verworren wahrgenommene mathematische Beziehung anspielen, wenn wir von einem Ton sagen, er habe eine höhere Intensität. Aber auch ohne so weit zu gehen, könnte man wohl als Prinzip aufstellen, daß jeder Bewußtseinszustand einem gewissen Reizzustand der Moleküle und Atome der Gehirnsubstanz entspricht und daß die Intensität einer Empfindung für den Umfang, die Verwicklung und die Ausdehnung der Molekularbewegung das Maß abgibt. Diese letztere Hypothese ist mindestens ebenso wahrscheinlich als die erstere, aber sie taugt ebensowenig zur Lösung des Problems. Denn es ist zwar möglich, daß die Intensität einer Empfindung auf eine mehr oder weniger bedeutende Leistung hinweist, die sich in unserem Organismus vollzogen hat; im Bewußtsein gegeben ist uns aber nur die Empfindung, nicht die mechanische Leistung. Wir urteilen ja über die mehr oder weniger große Menge der geleisteten Arbeit erst auf Grund der Intensität der Empfindung: die Intensität bleibt also, dem Anschein nach wenigstens, eine unmittelbare Eigenschaft der Empfindung. Und immer taucht dieselbe Frage auf: weshalb sagen wir von einer höheren Intensität, sie sei größer? Weshalb denken wir an eine größere Quantität oder einen größeren Raum?
Vielleicht liegt die Schwierigkeit des Problems hauptsächlich darin, daß wir Intensitäten verschiedenster Natur, wie z.B. die Intensität eines Gefühls und die einer Empfindung oder einer Willensanstrengung, mit demselben Namen belegen und in derselben Weise vorstellen. Die Willensanstrengung wird von einer Muskelempfindung begleitet, und die Empfindungen selbst sind an gewisse physische Bedingungen geknüpft, die wahrscheinlich auf die Bewertung ihres Intensitätsgrades Einfluß haben: es sind das Phänomene, die sich auf der Oberfläche des Bewußtseins zutragen und die sich allemal, wie wir späterhin sehen werden, mit der Wahrnehmung einer Bewegung oder eines äußeren Gegenstandes assoziieren. Gewisse Zustände der Seele jedoch scheinen uns, ob mit Recht oder mit Unrecht, sich selbst zu genügen: so die hohe Freude, der tiefe Kummer, die Leidenschaften des reflektierenden Gemüts, die ästhetischen Affekte. Die reine Intensität muß sich in diesen einfachen Fällen leichter abgrenzen lassen, wo keinerlei extensives Element mit hineinzuspielen scheint. In der Tat werden wir sehen, daß sie sich hier auf eine gewisse Qualität oder Schattierung zurückführen läßt, deren Tönung sich einer mehr oder weniger beträchtlichen Menge psychischer Zustände mitteilt, oder, wenn man will, auf eine größere oder kleinere Zahl einfacher Zustände, die die fundamentale Erregung durchdringen.
Es ist z.B. ein dunkles Verlangen allmählich zu einer tiefen Leidenschaft geworden. Man wird sich überzeugen können, daß die geringe Intensität dieses Wunsches zunächst darin bestand, daß er uns isoliert und gleichsam dem ganzen übrigen Innenleben fremd erschienen war. Doch allmählich hat der Wunsch eine immer größere Zahl psychischer Elemente durchdrungen, indem er ihnen sozusagen seine eigene Farbe verlieh; und nun scheint sich allen Dingen gegenüber unser Standpunkt verwandelt zu haben. Wird man etwa nicht eine tiefe Leidenschaft, wenn sie einmal entstanden ist, daran gewahr, daß die gleichen Dinge auf einen nicht mehr denselben Eindruck machen? All unsere Empfindungen, alle Vorstellungen erscheinen durch sie wie neu; es ist, als erlebten wir eine zweite Kindheit. Analoges widerfährt uns bei gewissen Träumen, wo unsere Einbildung uns nur ganz Gewöhnliches vorführt und wo dennoch ein gewisser noch nie dagewesener Klang durch die Traumbilder hindurchtönt. Je weiter man eben in die Tiefen des Bewußtseins hinabdringt, desto weniger hat man das Recht, die psychologischen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, die sich nebeneinander aufreihen ließen. Wenn man sagt, ein Gegenstand nehme einen großen Raum in der Seele ein, oder sogar, er nehme sie ganz und gar ein, so darf man darunter nur verstehen, daß sein Bild die Tönung Tausender von Wahrnehmungen und Erinnerungen modifiziert hat und daß es sie in diesem Sinne durchdringt, ohne doch selber darin zum Vorschein zu kommen. Diese ganz dynamische Vorstellungsart aber widerstrebt dem reflektierenden Bewußtsein, weil dieses die scharfen Unterscheidungen, die sich ohne weiteres auf Worte bringen lassen, bevorzugt und die Dinge liebt, die bestimmte Umrisse haben, wie die, die wir im Raume erblicken. Es wird daher annehmen, daß ein bestimmtes Begehren sukzessive Größengrade durchlaufen habe, während alles übrige sich gleichgeblieben sei: als könnte noch von Größe gesprochen werden, wo weder Mannigfaltigkeit ist noch Raum! Und wie wir das reflektierende Bewußtsein dabei beobachten können, daß es die immer zahlreicheren Muskelkontraktionen, die sich an der Körperoberfläche vollziehen, auf einen gegebenen Punkt des Organismus konzentriert, um daraus eine Willensanstrengung von anwachsender Intensität zu machen, so wird es auch in der Gestalt eines anschwellenden Begehrens die progressiven Modifikationen abgesondert kristallisieren lassen, die in der verworrenen Masse der gleichzeitig vorhandenen psychischen Vorgänge stattgefunden haben. Es liegt aber hier in Wahrheit mehr eine Qualitäts- als eine Größenveränderung vor.

Was aus der Hoffnung eine so intensive Lustempfindung macht, ist, daß die Zukunft, die wir uns nach Belieben ausmalen können, uns zur selben Zeit in einer Menge von gleich ansprechenden, gleich möglichen Gestaltungen vorschwebt. Auch wenn sich die erwünschteste unter ihnen verwirklicht, müssen wir eben doch die andern aufgeben, und haben dann viel verloren. Die Vorstellung der Zukunft, die eine Unendlichkeit von Möglichkeiten in ihrem Schoße birgt, ist also fruchtbarer als die Zukunft selbst, und so kommt es, daß der Hoffnung ein größerer Reiz beiwohnt als dern Besitz, der Traum anziehender ist als die Wirklichkeit.
Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen. (L. Wittgenstein)
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HENRY BERGSON ZEIT UND FREIHEIT II

Beitragvon Ralfchen » 27. Mär 2018, 00:17

BERGSON TOWER OF TIME.png
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BERGSONS TOWER OF TIME
GRAFIC BY RALFCHEN 140/100 cm - 03 2018


Versuchen wir uns klarzumachen, worin die wachsende Intensität einer Freude oder einer Betrübnis besteht, und zwar in den Ausnahmefällen, wo kein physisches Symptom dabei mitspielt. Die innere Freude ist ebensowenig wie die Leidenschaft eine isolierte psychologische Tatsache, die zuerst an einem besondern Orte der Seele anzutreffen wäre und sodann allmählich mehr Raum einnähme. Auf ihrer niedersten Stufe kommt sie annähernd einer Einstellung unserer Bewußtseinszustände in der Richtung auf die Zukunft gleich. Alsdann beginnen unsere Vorstellungen und Empfindungen, wie wenn diese Anziehung ihr Eigengewicht vermindert hätte, in schnellerem Tempo aufeinander zu folgen; auch unsere Bewegungen erfordern nicht mehr dieselbe Anstrengung. Schließlich, wenn die Freude den höchsten Grad erreicht hat, erhalten unsre Wahrnehmungen und Erinnerungsbilder eine völlig unbestimmbare Qualität, die etwa mit Wärme oder mit Licht vergleichbar wäre und die so neu ist, daß wir in gewissen Augenblicken, wenn wir auf uns selbst zurückschauen, fast Verwunderung darüber empfinden, daß wir existieren. So gibt es mehrere charakteristische Formen der rein inneren Freude, lauter sukzessive Etappen, di qualitativen Modifikationen der Masse unserer psychologischen Zustände entsprechen. Doch ist die Zahl der Zustände, die jede dieser Modifikationen erreicht, mehr oder weniger beträchtlich, und wenn wir sie auch nicht ausdrücklich zählen, so wissen wir gleichwohl, ob unsere Freude z.B. alle unsre Tageseindrücke durchdringt oder ob einige davon unberührt bleiben. Wir errichten auf diese Weise Teilpunkte in dem Intervall zwischen zwei sukzessiven Formen der Freude, und dieses gradweise Vorrücken von einer zur andern ist der Grund, weshalb sie uns ihrerseits wie Intensitäten eines und desselben Gefühls erscheinen, das einer Größenveränderung unterworfen ist. Es wäre nicht schwer darzutun, daß die verschiedenen Grade der Traurigkeit ebenfalls qualitativen Veränderungen entsprechen. Die Betrübnis ist anfänglich nichts weiter als eine Einstellung auf die Vergangenheit, eine Verarmung unserer Empfindungen und Vorstellungen, als ob jede von ihnen nun ganz in dem Wenigen aufginge, was sie zu geben hat, als ob uns irgendwie die Zukunft verschlossen wäre. Und zuletzt folgt ein Eindruck von Niedergeschlagenheit, der uns die Sehnsucht zum Nichtsein erregt und bewirkt, daß jede neue Ungunst des Schicksals uns zu einem weiteren Beweis für die Aussichtslosigkeit des Kampfes wird und so uns eine bittere Genugtuung bereitet.

Die ästhetischen Gefühle geben uns noch auffallendere Beispiele für dieses progressive Hinzukommen neuer Elemente, die in der fundamentalen Gemütserregung sichtbar werden und deren Größe zu vermehren scheinen, obwohl sie lediglich ihre Natur modifizieren. Betrachten wir das allereinfachste, das Gefühl von Anmut. Zunächst ist es nur die Wahrnehmung einer gewissen Ungezwungenheit, einer gewissen Leichtigkeit in den äußeren Bewegungen. Da nun die leichten Bewegungen die sind, die einander vorbereiten, finden wir schließlich eine höhere Ungezwungenheit in den Bewegungen, die sich voraussehen ließen, in den gegenwärtigen Gebarungen, die bereits die Andeutung der künftigen Gebarungen enthalten und sie gewissermaßen präformieren. Wenn ruckweise Bewegungen der Anmut entbehren, so erklärt sich dies daraus, daß jede sich hier selbst genügt und die folgenden nicht ankündigt. Wenn die Anmut die Kurven den gebrochenen Linien vorzieht, so kommt dies daher, daß die gekrümmte Linie jeden Augenblick die Richtung ändert, wobei aber jede neue Richtung in der vorangehenden bereits angekündigt wird. Die Wahrnehmung einer Leichtigkeit in der Bewegung fließt somit hier in eins zusammen mit der Lust daran, den Zeitablauf irgendwie zu hemmen und die Zukunft schon im gegenwärtigen in der Hand zu halten. Ein drittes Element stellt sich dann ein, wenn die anmutigen Bewegungen einem Rhythmus gehorchen und von Musik begleitet werden. In diesem Fall nämlich lassen uns Rhythmus und Takt, indem sie uns die Bewegungen des Künstlers noch sicherer vorauszusehen gestatten, daran glauben, daß wir selbst sie beherrschen. Da wir beinahe die Haltung erraten, die er einnehmen wird, scheint es, als ob er, wenn er sie wirklich einnimmt, uns gehorche; die Regelmäßigkeit des Rhythmus stellt zwischen uns und ihm eine Art Verbindung her, und die periodischen Wiederholungen des Taktes sind gleichsam unsichtbare Drähte, durch die wir diese imaginäre Puppe in Bewegung setzen. Und wenn sie einen Augenblick innehält, ist unsre ungeduldig gewordene Hand genötigt, eine Geste zu machen, als wollte sie sie antreiben, als wollte sie sie wieder in jene Bewegung zurückversetzen, deren Rhythmus unser Gedanke und unser Wille geworden ist. Es geht somit in das Gefühl von Anmut eine Art physische Sympathie ein, und wenn man den Zauber dieser Sympathie analysiert, wird man sich überzeugen, daß diese ihrerseits wegen ihrer Verwandtschaft mit der geistigen Sympathie gefällt, deren Vorstellung sie einem auf unmerkliche Weise suggeriert. Dies letztere Element, in das die andern einmünden, nachdem sie es gewissermaßen angekündigt hatten, erklärt die unwiderstehliche Anziehungskraft der Anmut; man würde die Lust nicht begreifen können, die sie uns verursacht, wenn sie weiter nichts wäre als eine Ersparnis an Anstrengung, wie Spencer meint . Die Wahrheit ist vielmehr, daß wir aus allem, was große Anmut besitzt, abgesehen von der Leichtigkeit, die auf Beweglichkeit hinweist, die Andeutung einer möglichen uns entgegenkommenden Bewegung, einer virtuellen oder sogar bereits im Keim vorhandenen Sympathie herauszulesen glauben. Diese bewegliche Sympathie, die da immer im Begriffe steht, sich hinzugeben, macht das wahre Wesen der höheren Anmut aus. So lösen sich also die anwachsenden Intensitäten des ästhetischen Gefühls in eine Menge verschiedenartiger Gefühle auf, von denen jedes einzelne vom vorangehenden bereits angekündigt und in ihm sichtbar wird, um dieses sodann definitiv hinter sich zurücktreten zu lassen. Diesen qualitativen Fortschritt deuten wir im Sinne einer Größenveränderung, weil wir das Einfache lieben und weil unsre Sprache nicht dazu angetan ist, die Subtilitäten der psychologischen Zergliederung wiederzugeben.

Um zu begreifen, wie das Gefühl des Schönen selbst einer Abstufung fähig ist, müßte man es einer sorgfältigen Analyse unterziehen. Vielleicht ist die Schwierigkeit, die man bei seiner Definition empfindet, insbesondere darauf zurückzuführen, daß man die Naturschönheiten als den Schönheiten der Kunst voraufgehend ansieht: die Verfahrungsweisen der Kunst wären dann nur die Mittel, wodurch der Künstler das Schöne ausdrückt, und das Wesen des Schönen bliebe im dunkeln. Man könnte aber wohl die Frage stellen, ob die Natur nicht gerade durch das glückliche Zusammentreffen mit gewissen Verfahrungsweisen unserer Kunst schön sei und ob die Kunst nicht in einem gewissen Sinn der Natur voraufgehe. Will man auch nicht soweit gehen, so scheint es doch den Regeln einer gesunden Methode entsprechender zu sein, das Schöne zunächst in den Werken zu studieren, wo es durch eine bewußte Bemühung hervorgebracht worden ist, und dann in unmerklichen Übergängen von der Kunst zur Natur zurückzugehen, die auf ihre Weise Künstlerin ist. Indem man sich auf diesen Standpunkt stellt, wird man, glauben wir, gewahr werden, daß der Zweck der Kunst darin liegt, die aktiven oder vielmehr widerstrebenden Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns auf solche Weise in einen Zustand vollendeter Fügsamkeit überzuführen, in dem wir die Vorstellungen, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen. In den Verfahrungsweisen der Kunst werden wir in abgeschwächter Form, verfeinert und gewissermaßen vergeistigt, die Verfahrungsweisen wiederfinden, durch die gewöhnlich der hypnotische Zustand erzielt wird. – So unterbrechen in der Musik Rhythmus und Takt den normalen Lauf unserer Vorstellungen und Empfindungen, indem sie unsre Aufmerksamkeit veranlassen, zwischen festen Punkten zu pendeln, und sie bemächtigen sich unser mit solcher Kraft, daß die Nachahmung einer schluchzenden Stimme, so diskret sie irgend sein mag, schon genügt, uns in eine tief traurige Stimmung zu versetzen. Wenn die Töne der Musik stärker auf uns wirken als die der Natur, so kommt das daher, daß die Natur es dabei bewenden läßt, Gefühle auszudrücken, während die Musik sie uns suggeriert. Wie erklärt sich der Zauber der Dichtkunst? Der Dichter ist ein Mensch, bei dem die Gefühle sich zu Bildern entwickeln, und diese wieder zu rhythmischen Worten, die sie ausdrücken sollen. Indem wir diese Bilder an unserm Auge vorüberziehen sehen, erleben wir unsererseits das Gefühl, das sozusagen ihr emotionales Äquivalent war; doch diese Bilder würden sich für uns ohne die regelmäßigen Bewegungen des Rhythmus nicht in gleichem Grade zur Wirklichkeit verdichten; durch ihn eingewiegt und eingeschläfert, gerät unsre Seele in den Zustand traumhaften Vergessens ihrer selbst, in dem sie nur noch mit dem Dichter denkt und fühlt. Die plastischen Künste erzielen eine Wirkung derselben Art durch den Stillstand, den sie mit einem Male ins Leben bringen und den eine Vermittlung physischer Natur auf die Aufmerksamkeit des Betrachtenden überträgt. Wenn die Werke der antiken Bildhauerkunst flüchtige Affekte ausdrücken, die jene Gebilde nur leichthin streifen wie ein Hauch, so teilt dafür die blasse Unbewegtheit des Steins dem zum Ausdruck gebrachten Gefühl und der angefangenen Bewegung ein nicht näher zu bestimmendes Endgültiges und Ewiges mit, worin unser Denken aufgeht und woran unser Wille sich verliert. In der Baukunst trifft man inmitten jener das Gemüt ergreifenden Unbewegtheit selbst gewisse Wirkungen an, die dem Rhythmus verwandt sind. Die Symmetrie der Formen, die ununterbrochene Wiederholung desselben architektonischen Motivs, lassen unser Wahrnehmungsvermögen vom Gleichen zum Gleichen sich lein und her bewegen und drängen jene unausgesetzten Veränderungen zurück, die uns im täglichen Leben ohne Unterlaß das Bewußtsein unsrer Persönlichkeit aufnötigen: eine wenn auch nur andeutende Hinweisung auf eine Idee genügt alsdann, unsere ganze Seele mit ihr zu erfüllen. So hat es die Kunst eigentlich mehr darauf abgesehen, uns einen Eindruck von den Gefühlen zu geben als diesen einen Ausdruck; sie suggeriert sie uns und legt keinen Wert darauf, die Natur nachzuahmen, falls sie noch wirksamere Mittel findet. Die Natur verfährt wie die Kunst suggestiv, sie verfügt aber nicht über den Rhythmus. Sie ersetzt ihn durch jene lange Kameradschaft, die gemeinschaftlich erfahrene Einflüsse zwischen ihr und uns gestiftet haben, und die uns bei der geringsten Andeutung eines Gefühls mit ihr mitfühlen läßt, nicht anders als wie ein wiederholt Hypnotisierter den Gebärden des Magnetiseurs Folge leistet. Und diese Sympathie stellt sich ganz besonders dann ein, wenn uns die Natur ebenmäßig geformte Wesen vor Augen stellt, so daß unsre Aufmerksamkeit sich in gleicher Weise auf alle Teile der Gestalt ausbreitet, ohne von irgendeinem Teil vornehmlich gefesselt zu werden: wenn unser Wahrnehmungsvermögen durch diese Art von harmonischem Verhältnis eingewiegt wird, wird jedes Hindernis für den freien Aufschwung des Gefühls aufgehoben, und das Gefühl wartet ja nur immer auf die Beseitigung des Hindernisses, um alsbald in sympathische Erregung zu geraten. – Aus dieser Analyse ergibt sich, daß das Gefühl des Schönen kein Gefühl eigener Art ist, sondern daß jedes von uns erlebte Gefühl einen ästhetischen Charakter annehmen kann, vorausgesetzt, daß es suggeriert und nicht äußerlich verursacht worden ist. Hieraus läßt sich nun begreifen, wieso die ästhetische Gemütserregung Grade von Intensität wie auch Grade der Erhebung zuzulassen scheint. Bald unterbricht nämlich das suggerierte Gefühl nur notdürftig das dichte Gewebe der psychologischen Vorgänge, die unsre Geschichte ausmachen, bald lenkt es unsre Aufmerksamkeit von ihnen ab, ohne sie jedoch gänzlich unserm Gesichtskreis zu entrücken; bald tritt es endlich an ihre Stelle, nimmt uns völlig ein und bemächtigt sich unsrer ganzen Seele. Es gibt also unterscheidbare Phasen im Verlauf eines ästhetischen Gefühls ebenso wie im hypnotischen Zustand; und diese Phasen entsprechen weniger Variationen des Grades als Unterschieden des Zustands oder der Natur. Doch der Vorzug eines Kunstwerks ist weniger nach der Stärke zu bemessen, mit der das suggerierte Gefühl uns überwältigt, als nach dem Inhaltsreichtum des Gefühls selbst: m. a. W. wir unterscheiden neben Graden der Intensität instinktiv Grade der Tiefe oder der Erhebung. Analysieren wir diesen letzteren Begriff, so finden wir, daß die Gefühle und Gedanken, die uns vom Künstler suggeriert werden, einen mehr oder weniger beträchtlichen Teil seiner Geschichte zusammenfassend zum Ausdruck bringen. Wenn die Kunst, die nur Empfindungen gibt, als eine untergeordnetere gilt, so kommt das daher, daß durch Analyse selten in einer Empfindung etwas anderes zu entdecken ist als eben diese Empfindung. Die Mehrzahl der Gemütsbewegungen jedoch sind mit unzähligen Empfindungen, Gefühlen oder Vorstellungen geschwängert, die sie durchdringen; jede davon ist somit in ihrer Art etwas Einziges, Undefinierbares, und es scheint, als müsse man das Leben dessen, der sie empfand, wiederleben, um sie in ihrer vollen Ursprünglichkeit fassen zu können. Dennoch hat es der Künstler darauf abgesehen, uns mit diesem so reichhaltigen, so persönlichen, so neuen Affekt bekannt zu machen und uns erleben zu lassen, was er uns begreiflich zu machen nicht imstande wäre. Er wird also unter den äußern Kundgebungen seines Gefühls die festhalten, die unser Leib wenn auch nur flüchtig im Augenblick der Wahrnehmung nachahmt, so daß uns der Künstler mit einem Male in den undefinierbaren psychologischen Zustand hineinversetzt, der jene Kundgebungen hervorgerufen hatte. So wird die Schranke beseitigt, die Zeit und Raum zwischen seinem und unserm Bewußtsein gezogen hatten; und je ideenreicher, je gehaltvoller an Empfindung und Affekten das Gefühl ist, in dessen Bannkreis er uns einführt, desto mehr Tiefe oder Erhebung wird das dargestellte Schöne besitzen. Die sukzessiven Intensitäten des ästhetischen Gefühls entsprechen somit Zustandsänderungen in uns und die Grade der Tiefe der größeren oder kleineren Anzahl elementarer psychischer Vorgänge, die wir in der fundamentalen Emotion verworren unterscheiden.

Die moralischen Gefühle lassen sich einer Untersuchung gleicher Art unterziehen. Betrachten wir beispielsweise das Mitleid. Es besteht zunächst darin, daß man sich in Gedanken an die Stelle der andern versetzt, ihr Leid erleidet. Wäre es aber nichts als dieses, wie behauptet worden ist, so würde es uns eher anweisen, die Unglücklichen zu meiden als ihnen beizustehen, denn das Leiden erregt in uns naturgemäß Widerwillen. Es ist möglich, daß dies Gefühl des Widerwillens dem Mitleid zugrunde liegt; doch es kommt alsbald ein neues Element hinzu, ein Bedürfnis, unsresgleichen zu helfen und ihr Leid zu lindern. Werden wir nun mit La Rochefoucauld sagen, diese angebliche Sympathie sei Berechnung,- »eine schlaue Voraussicht künftiger Ubel«? Es mag sein, daß die Furcht tatsächlich auch noch in das Mitgefühl eingeht, das uns beim Anblick des Leidens unsres Nächsten befällt doch sind das immer nur untergeordnete Formen des Miteids. Das wahre Mitleid besteht darin, daß man das Leid eher wünscht als fürchtet. Es ist ein flüchtiger Wunsch, dessen Verwirklichung man kaum begehren würde und den man doch wider Willen in sich aufkommen läßt, gleich als ob die Natur irgendeine große Ungerechtigkeit beginge und es gelte, jeden Verdacht des Einverständnisses mit ihr zu beseitigen. Das Wesen des Mitleids ist also ein Bedürfnis nach Demütigung, ein Aufschwung der Seele, sich herabzulassen. Dieser schmerzliche Aufschwung hat übrigens seinen Reiz, da es uns in unsrer eigenen Wertschätzung erhöht und bewirkt, daß wir uns über jene sinnlichen Güter erhaben fühlen, von denen sich unser Denken in diesem Augenblicke abwendet. Die anwachsende Intensität des Mitleids besteht somit in einem qualitativen Fortschritt, in einem Übergang vom Widerwillen zur Furcht, von dieser zur Sympathie und von der Sympathie selbst zur Demut.

Wir wollen diese Analyse nicht weiter fortsetzen. Die psychischen Zustände, deren Intensität wir soeben definiert haben, sind in der Tiefe des Gemüts vor sich gehende Zustände, die mit ihrer äußeren Verursachung keineswegs solidarisch zu sein noch auch die Perzeption einer Muskelkontraktion in sich zu schließen scheinen. Sie sind jedoch selten. Es gibt kaum eine Leidenschaft oder einen Wunsch, eine Freude oder einen Kummer, der nicht von physischen Symptomen begleitet wäre; und wo solche Symptome sich einstellen, da leisten sie uns wahrscheinlich bei der Bewertung der Intensitätsgrade irgendwie Dienste. Was die eigentlichen Empfindungen anbetrifft, so sind sie offensichtlich an ihre äußere Ursache gebunden, und wenn sich auch die Intensität der Empfindung nicht durch die Größe ihrer Ursache definieren läßt, so besteht doch zweifellos eine Beziehung zwischen diesen beiden. In einigen seiner Kundgebungen scheint sich sogar das Bewußtsein nach außen auszubreiten, als wenn die Intensität sich ins Ausgedehnte fortentwickelte: so z.B. bei der Muskelanstrengung. Fassen wir dies letztere Phänomen sofort ins Auge: wir versetzen uns dadurch mit einem Male ans entgegengesetzte Ende der Reihe der psychologischen Tatsachen.
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Bergson ZEIT UND FRTEIHEIT II

Beitragvon Ralfchen » 27. Mär 2018, 16:58

die Winde in der Höhle des Äolus..png
die Winde in der Höhle des Äolus..png (1.19 MiB) 99267-mal betrachtet

DIE WINDE IN DER HÖHLE DES ÄOLUS
GRAFIC BY RALFCHEN 100x85 cm



Wenn es irgendein Phänomen gibt, das sich dem Bewußtsein unmittelbar in der Form der Quantität oder wenigstens der Größe darzubieten scheint, so ist dies jedenfalls die Muskelanstrengung. Es scheint, als ob die psychische Kraft, die in der Seele eingesperrt ist, wie die Winde in der Höhle des Äolus, dort nur auf den Augenblick warte, wo sie hervorbrechen könne; der Wille nun sei dieser Kraft zum Wächter gesetzt und öffne ihr einen Ausgang, indem er den Verbrauch nach dem gewünschten Erfolge einrichtet. Wenn man genauer zusieht, wird man sogar sehen, daß diese ziemlich grobe Auffassung der Willensanstrengung bei unserem Glauben an intensive Größen eine bedeutende Rolle spielt. Da die Muskelkraft, die sich im Raum entfaltet und in meßbaren Erscheinungen kundgibt, uns den Eindruck macht, als habe sie vor ihrer Kundgebung bereits existiert, nur mit geringerem Volumen und sozusagen in komprimiertem Zustand, so finden wir weiter kein Bedenken darin, dies Volumen immer kleiner werden zu lassen, und wir glauben schließlich zu begreifen, wie ein rein psychischer Zustand, der keinen Raum einnimmt, dennoch eine Größe haben könne. Die Wissenschaft hat übrigens die Neigung, die Täuschung des gemeinen Verstands in diesem Punkte zu bekräftigen. Bain sagt uns z.B., daß »die Sensibilität, die die Muskelbewegung begleitet, mit dem zentrifugalen Strom der Nervenkraft zusammenfalle«. Das Bewußtsein würde demnach die Verausgabung der Nervenkraft selbst apperzipieren können. W. Wundt spricht gleichfalls von einer Empfindung zentralen Ursprungs, die die Willens-Innervation der Muskeln begleite, und zitiert als Beispiel den Paralytiker, »der eine sehr bestimmte Empfindung habe von der Kraft, die er aufwendet, um sein Bein zu heben, obgleich es unbewegt bleibt« . Die meisten Forscher schließen sich dieser Ansicht an, die in der positiven Wissenschaft unumstößlich dastünde, hätte nicht vor einigen Jahren William James die Aufmerksamkeit der Physiologen auf gewisse Phänomene gelenkt, die bisher wenig beachtet wurden und doch sehr beachtenswert sind. Wenn ein Paralytiker sich bemüht, ein unbewegliches Glied zu heben, führt er diese Bewegung allerdings nicht aus, aber er führt dafür, ob erwill oder nicht, eine andere aus. Irgendeine Bewegung wird irgendwo vollzogen: wäre es nicht der Fall, so käme es zu keiner Empfindung von Anstrengung . Schon Vulpian hatte darauf aufmerksam gemacht, daß wenn man einen einseitig Gelähmten auffordert, auf der gelähmten Seite eine Faust zu machen, er unbewußt diesen Akt mit der gesunden Hand ausführt. Ferrier führt ein noch merkwürdigeres Phänomen an . Man strecke den Arm aus, indem man den Zeigefinger leicht zurückbiegt, wie wenn man auf den Hahn einer Pistole drücken wollte: man kann dabei den Finger unbewegt lassen, keinen Muskel der Hand zusammenziehen, keinerlei sichtbare Bewegung machen und dennoch fühlen, daß Energie verbraucht wird. Doch wird man bei näherem Zusehen gewahr, daß diese Empfindung einer Anstrengung zusammenfällt mit der Fixierung der Brustmuskeln, daß die Stimmritze geschlossen gehalten, und daß die Muskulatur der Atmungsorgane aktiv kontrahiert wird. Sobald die Atmung wieder den normalen Verlauf nimmt, schwindet das Bewußtsein von Anstrengung, sofern man nicht etwa wirklich den Finger bewegt. Diese Tatsachen scheinen bereits darauf hinzuweisen, daß wir uns nicht einer Kraftverausgabung, sondern der daraus resultierenden Muskelbewegung bewußt werden. Das Neue bei W. James besteht darin, daß er diese Hypothese an Beispielen erhärtet hat, die sich dazu ganz und gar nicht zu eignen schienen. Wenn z.B. der äußere gerade Muskel des rechten Auges gelähmt ist, bemüht sich der Kranke umsonst, das Auge nach rechts zu drehen; jedoch scheinen ihm die Gegenstände sich schnell in der Richtung nach rechts zu bewegen, und da der Willensakt zu keinem Erfolg geführt hat, muß, so sagte Helmholtz , die Willensanstrengung selbst sich dem Bewußtsein kundgegeben haben. Man hat aber, entgegnet W. James, nicht in Anschlag gebracht, was sich unterdessen am andern Auge zuträgt: dieses bleibt während der Experimente zugedeckt; es bewegt sich aber trotzdem, und es ist unschwer, sich davon zu überzeugen. Diese Bewegung des linken Auges, die das Bewußtsein wahrnimmt, liefert uns die Empfindung der Anstrengung, während sie uns zu gleicher Zeit zum Glauben veranlaßt, die vom rechten Auge wahrgenommenen Gegenstände hätten sich bewegt. Diese und andere analoge Beobachtungen führen nun W. James zur Behauptung, daß das Gefühl der Anstrengung zentripetal und nicht zentrifugal ist. Wir werden uns nicht einer Kraft bewußt, die wir etwa dem Organismus mitteilten: unser Gefühl einer Verausgabung von Muskelenergie »ist eine komplexe, aus den zuleitenden Nerven herrührende Empfindung, die von den kontrahierten Muskeln, den gespannten Sehnen, den festgekrümmten Gelenken, der lixierten Brust, der geschlossenen Stimmritze, den zusammengezogenen Brauen, den zusammengepreßten Kinnladen«, kurz von allen peripheren Teilen ausgeht, in denen die Anstrengung eine Modifikation bewirkt.

Wir haben keine Veranlassung, in diesem Streite Stellung zu nehmen. Auch ist die uns zunächst interessierende Frage nicht die, zu wissen, ob das Gefühl der Anstrengung vom Zentrum oder der Peripherie ausgehe, sondern worin eigentlich unsere Perzeption ihrer Intensität bestehe. Nun genügt es aber, sich selbst aufmerksam zu beobachten, um in diesem letzteren Punkte zu einem Schlusse zu gelangen, den W. James zwar nicht formuliert hat, der uns indessen mit dern Geiste seiner Lehre völlig im Einklang zu sein scheint. Wir behaupten, daß in dem Maße, als uns eine gegebene Anstrengung den Eindruck des Anwachsens macht, die Zahl der sich sympathetisch kontrahierenden Muskeln zunimmt, und daß das scheinbare Bewußtsein von einer höheren Intensität der Anstrengung an einem gegebenen Punkte des Organismus sich in Wirklichkeit auf die Perzeption einer größeren Oberfläche des Leibes reduziert, die an dem Vorgang beteiligt ist.
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Bergsons Oberfläche der Seele III

Beitragvon Ralfchen » 27. Mär 2018, 17:36

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BERGSONS OBERFLÄCHE DER SEELE
GRAFIC BY RALFCHEN 85x70 cm



Man versuche z.B. die Faust »immer fester« zu ballen. Es wird der Schein entstehen, als ob die Empfindung einer Anstrengung, die völlig in der Hand lokalisiert ist, nacheinander wachsende Größen durchlaufe. In Wirklichkeit empfindet die Hand immer dasselbe. Nur hat die ursprünglich dort allein lokalisierte Empfindung den Arm mit ergriffen, ist bis zur Schulter aufgestiegen; schließlich steift sich auch der andere Arm, die Beine desgleichen, der Atem stockt; der ganze Körper wird empfunden. Doch gibt man sich von diesen begleitenden Bewegungen nur dann klare Rechenschaft, wenn man darauf aufmerksam gemacht worden ist; bis dahin glaubt man es mit einem einzigen Bewußtseinszustand zu tun zu haben, dessen Größe sich änderte. Preßt man die Lippen immer fester aufeinander, so glaubt man an dieser Stelle ein und dieselbe Empfindung in verstärktem Maße zu bekommen; auch hier wird man bei genauerem Zusehen gewahr werden, daß diese Empfindung identisch bleibt, aber daß gewisse Gesichts- und Kopfmuskeln und schließlich die Muskulatur des ganzen Körpers an dem Vorgang teilgenommen haben. Man empfindet dieses allmähliche Umsichgreifen, dieses Größerwerden der Oberfläche, das wirklich und tatsächlich eine Quantitätsveränderung darstellt; da man aber hauptsächlich an die zusammengepreßten Lippen denkt, lokalisiert man das Anwachsen der Empfindung an dieser Stelle und macht aus der psychischen Kraft, die sich dort auswirkte, eine Größe, obgleich sie keine Ausdehnung besaß. Man beobachte sorgfältig einen Menschen, der immer schwerere Gewichte hebt: die Muskelkontraktion greift allmählich auf den gesamten Körper über; die besondere Empfindung aber, die im Arm wahrgenommen wird, der Arbeit leistet, bleibt lange Zeit konstant, und ändert sich nur qualitativ, indem die Schwere in einem gewissen Zeitpunkt zur Müdigkeit und diese zum Schmerz wird. Trotzdem wird der Ausübende sich einbilden, das Bewußtsein eines stetigen Anwachsens der psychischen Kraft zu haben, die dem Arm zufließt. Er wird seinen Irrtum erst erkennen, wenn er darauf aufmerksam gemacht wird, so sehr ist er geneigt, einen gegebenen psychologischen Zustand nach den ihn begleitenden bewußten Bewegungen zu messen! Wir glauben, man wird aus diesen und vielen andern Fällen derselben Art folgenden Schluß ziehen: Unser Bewußtsein von einem Anwachsen der Muskelanstrengung reduziert sich auf die doppelte Perzeption einer größeren Anzahl peripherischer Empfindungen und einer qualitativen Veränderung, die in einigen von ihnen stattgefunden hat.

Hiermit sind wir also darauf geführt, die Intensität einer an der Oberfläche der Seele verlaufenden Anstrengung in gleicher Weise wie die eines in der Tiefe des Gemüts vor sich gehenden Gefühls zu definieren. In beiden Fällen liegt ein qualitativer Fortschritt und eine verworren wahrgenommene wachsende Komplexität vor. Doch das Bewußtsein, das da gewohnt ist, räumlich zu denken und was es denkt, sich selber vorzusprechen, bezeichnet das Gefühl mit einem einzigen Worte und lokalisiert die Anstrengung genau an dem bestimmten Punkte, wo sie einen Nutzeffekt ergibt: es nimmt dann eine stets sich selbst gleichbleibende Anstrengung wahr, die an der ihr seinerseits angewiesenen Stelle anwächst und ein Gefühl, das, da es seinen Namen nicht ändert, nur stärker wird, ohne seine Natur zu ändern. Es ist wahrscheinlich, daß wir diese Täuschung des Bewusstseins in den Zwischenzuständen zwischen den an der Oberfläche der Seele verlaufenden Anstrengungen und den in der Tiefe des Gemüts vor sich gehenden Gefühlen wieder antreffen werden. Eine große Anzahl psychologischer Zustände wird tatsächlich von Muskelkontraktionen und peripheren Empfindungen begleitet. Diese oberflächlichen Elemente werden bald durch eine rein theoretische Idee, bald durch eine praktisch orientierte Vorstellung miteinander zusammengefaßt. Im ersteren Falle liegt intellektuelle Anstrengung oder Aufmerksamkeit vor; im zweiten ereignen sich Affekte, die man heftige oder akute nennen könnte, Zorn, Schrecken und gewisse Arten der Freude, des Schmerzes, der Leidenschaft und des Begehrens. Zeigen wir nun in Kürze, daß dieselbe Definition der Intensität auch auf diese Zwischenzustände anwendbar ist.

Die Aufmerksamkeit ist nicht ein rein physiologisches Phänomen; doch ist nicht zu leugnen, daß Bewegungen sie begleiten. Diese sind weder Ursache noch Resultat des Phänomens; sie gehören zu ihm, sie drücken es im Ausgedehnten aus, wie das Ribot in so bemerkenswerter Weise gezeigt hat . Schon Fechner führte das in einem Sinnesorgan stattfindende Gefühl der Anstrengung bei der Aufmerksamkeit .auf das Muskelgefühl zurück, »das hervorgerufen wird, indem durch eine Art Reflextätigkeit die Muskeln in Bewegung gesetzt werden, die mit den verschiedenen Sinnesorganen in Verbindung stehen.« Er hatte jene ganz bestimmte Empfindung von Spannung und Zusammenziehung der Kopfhaut beobachtet, den Druck von außen nach innen am ganzen Schädel, den man erleidet, wenn man eine starke Anstrengung macht, sich auf etwas zu besinnen. Ribot hat die charakteristischen Bewegungen der willkürlichen Aufmerksamkeit einer genaueren Untersuchung unterzogen: »Die Aufmerksamkeit«, sagt er, »zieht den Stirnmuskel zusammen, dieser Muskel zieht die Brauen an, hebt sie und erzeugt die waagrechten Stirnfalten. ... In extremen Fällen öffnet sich der Mund weit. Bei Kindern und vielen Erwachsenen bewirkt die lebhafte Aufmerksamkeit ein Vorstrecken der Lippen, eine Art Maulen.« Gewiß, es wird immer in die willkürliche Aufmerksamkeit ein rein psychischer Faktor eingehen, wäre es auch nur die durch den Willen bewirkte Ausschließung aller der Vorstellungen, die mit der ins Auge gefaßten nichts zu tun haben. Wenn aber diese Ausschließung einmal geschehen ist, glauben wir noch das Bewußtsein einer zunehmenden Spannung der Seele, einer anwachsenden immateriellen Anstrengung zu haben. Man analysiere diesen Eindruck und man wird darin nichts andres finden als das Gefühl einer Muskelkontraktion, die sich über eine immer größere Oberfläche verbreitet oder ihre Natur verändert, indem die Spannung in Druck, Müdigkeit, Schmerz übergeht.
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Bergson ZEIT UND FRTEIHEIT IV

Beitragvon Ralfchen » 28. Mär 2018, 00:07

Nun erblicken wir aber keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Anstrengung der Aufmerksamkeit und dem, was Anstrengung der seelischen Spannung genannt werden könnte: heftiges Verlangen, entfesselter Zorn, leidenschaftliche Liebe, wilder Haß. Jeder dieser Zustände ließe sich, glauben wir, auf ein System von Muskelkontraktionen zurückführen, die durch eine Vorstellung zusammengefaßt werden: bei der Aufmerksamkeit die mehr oder weniger reflektierte Vorstellung des Erkennens: bei der Emotion dagegen die unreflektierte Vorstellung des Handelns. Die Intensität dieser heftigen Emotionen braucht also nichts andres zu sein als die begleitende Muskelspannung. Darwin hat in bemerkenswerter Weise die physiologischen Symptome der Wut geschildert: »der Puls ist beschleunigt: das Gesicht rötet sich oder wird leichenblaß; der Atem geht schwer; die Brust hebt sich; die bebenden Nasenflügel erweitern sich. Oft zittert der ganze Leib. Die Stimme verändert sich; die Zähne werden zusammengepreßt oder gegeneinander gerieben, und das Muskelsystem ist gewöhnlich zu einem gewalttätigen, fast wahnwitzigen Akte aufgereizt. ... die Gebärden stellen mehr oder weniger vollständig die Tätigkeit des Schlagens oder des Ringens mit einem Gegner dar.

Wir wollen nicht soweit gehen, mit W. James zu behaupten, daß der Wutaffekt sich auf die Summe dieser Organempfindungen zurückführen lasse: immer wird in den Affekt des Zorns ein unreduzierbares psychisches Element eingehen, wäre es auch nur die Vorstellung des Schlagens oder Ringens, von der Darwin spricht, eine Vorstellung, die so vielen verschiedenen Bewegungen eine gemeinsame Richtung aufzwingt. Wenn aber diese Vorstellung die Richtung des emotionalen Zustands und die Orientierung der begleitenden Bewegungen beherrscht, so ist, glauben wir, die zunehmende Intensität des Zustands selbst nichts anderes als die immer tiefer gehende Reizung des Organismus, eine Reizung, die vom Bewußtsein mühelos an der Zahl und der Ausdehnung der in Mitleidenschaft gezogenen Oberflächen gemessen wird. Umsonst wird man dagegen anführen, es gebe zurückgehaltene und daher um so intensivere Wutanfälle. Dort nämlich, wo der Gemütsbewegung freier Lauf gelassen wird, hält sich das Bewußtsein nicht bei den Einzelheiten der begleitenden Bewegungen auf: es hält sich dagegen dabei auf und konzentriert sich auf sie, wenn es sie zu verbergen trachtet. Wenn man schließlich jede Spur von organischer Reizung, jedes leiseste Wollen einer Muskelkontraktion ausschaltet, so bleibt vom Zorn nur mehr eine Vorstellung übrig, oder es kann ihm, sollte man noch immer eine Emotion darin erblicken wollen, jedenfalls keine Intensität zugeschrieben werden.

»Ein intensiver Schrecken«, sagt Herbert Spencer , »drückt sich durch Schreie, Anstrengungen, sich zu verstecken oder zu entweichen, Herzklopfen und Zittern aus.« Wir gehen noch weiter und behaupten, daß diese Bewegungen zum Schrecken selbst gehören: durch sie wird der Schrecken zu einer Emotion, die verschiedene Intensitätsgrade durchlaufen kann. Man unterdrücke sie vollständig und es wird der mehr oder weniger intensive Schrecken einer Vorstellung des Schreckens, der lediglich intellektuellen Vergegenwärtigung einer zu fliehenden Gefahr den Platzräumen. Es gibt auch ein Akutwerden des Affekts der Freude, des Schmerzes, des Begehrens, der Abneigung und selbst der Scham, das sich aus den Bewegungen infolge automatischer Reaktion erklären ließe, die der Organismus einleitet und das Bewußtsein perzipiert. »Die Liebe«, sagt Darwin, »macht das Herz schlagen, beschleunigt die Atmung und rötet das Gesicht« . Die Abneigung gibt sich kund durch Bewegungen des Ekels, die man unbewußt wiederholt, wenn man an den ekelerregenden Gegenstand denkt. Man errötet, man krampft unwillkürlich die Finger zusammen, wenn man Scham empfindet, wäre es auch nur im Rückblick auf Vergangenes. Die Heftigkeit dieser Emotionen bemißt sich nach der Zahl und Natur der peripherischen Empfindungen, die sie begleiten. Allmählich und in dem Maße, als der emotionale Zustand an Heftigkeit verliert, während er an Vertiefung gewinnt, werden dann die peripherischen Empfindungen inneren Elementen das Feld räumen: nicht mehr unsre äußern Bewegungen, sondern unsre Vorstellungen, Erinnerungen, überhaupt unsere Bewußtseinszustände werden dann in größerer oder geringerer Zahl sich in bestimmter Richtung orientieren. Es besteht also hinsichtlich der Intensität kein wesentlicher Unterschied zwischen den in der Tiefe des Gemüts sich ereignenden Gefühlen, von denen zu Anfang der Untersuchung die Rede war, und den heftigen oder gewaltsamen Emotionen, die wir soeben haben an uns vorüberziehen lassen. Wenn man sagt, die Liebe, das Begehren, der Haß nehmen an Heftigkeit zu, so heißt das soviel als: sie projizieren sich nach außen, strahlen nach der Oberfläche aus, den innern Elementen substituieren sich peripherische Empfindungen: aber, ob nun diese Gefühle oberflächlich oder tief, heftig oder reflektiert sind, ihre Intensität besteht jedenfalls immer in der Mannigfaltigkeit der einfachen Zustände, die das Bewußtsein verworren darin zu entdecken vermag.

Wir haben uns bisher auf Gefühle und Anstrengungen beschränkt, auf Zustände also, die komplex sind und deren Intensität nicht unbedingt von einer äußeren Ursache abhängig ist. Worin besteht nun aber die Größe der Empfindungen, die uns doch als einfache Zustände erscheinen? Die Intensität dieser Empfindungen variiert wie die äußere Ursache, als deren Äquivalent im Bewußtsein sie gelten sollen: wie erklärt sich das Eindringen des quantitativen in eine inextensive und diesmal unteilbare Wirkung? Um diese Frage zu beantworten, ist zuvor zu unterscheiden zwischen den sogenannten affektiven und den vorstellungsmäßigen Empfindungen. Sicherlich finden stufenweise Übergänge von den einen zu den andern statt; ohne Zweifel geht ein affektives Element in die Mehrzahl unserer einfachen Vorstellungen ein. Aber nichts steht im Wege, dies Element herauszugreifen und eine gesonderte Untersuchung darüber anzustellen, worin die Intensität einer affektiven Empfindung, einer Lust oder eines Schmerzes, besteht.

Vielleicht liegt die Schwierigkeit dieses letzteren Problems hauptsächlich daran, daß man im affektiven Zustand nichts andres erblicken will als den bewußten Ausdruck eines organischen Reizes oder die innere Reaktion auf eine äußere Ursache. Man macht die Beobachtung, daß gewöhnlich einer größeren Reizung der Nerven eine intensivere Empfindung entspricht; indessen, da diese Reizungen, insofern als sie Bewegungen sind, unbewußt erfolgen, weil sie ja im Bewußtsein unter dem Aspekt einer ihnen unähnlichen Empfindung auftreten, ist nicht einzusehen, wie sie der Empfindung von ihrer eigenen Größe etwas sollten mitteilen können. Denn, wir wiederholen, es gibt nichts Gemeinsames zwischen übereinander legbaren Größe wie es etwa die Vibrationsamplituden sind, und Empfindungen, die keinen Raum einnehmen. Wenn es uns scheint, daß die intensivere Empfindung die Empfindung von geringerer Stärke in sich enthalte, wenn sie in unsern Augen die Gestalt einer Größe annimmt, ebenso wie die organische Reizung selbst eine Größe ist, so erklärt sich das wahrscheinlich daraus, daß sie etwas von dem physischen Reiz beibehält, dem sie entspricht. Und sie behält nichts davon bei, wenn sie nur die bewußte Übersetzung einer Molekularbewegung ist; denn eben weil diese Bewegung sich in die Freude- oder Schmerzempfindung übersetzt, bleibt sie, als Molekularbewegung, unbewußt.

Man kann nun aber die Frage aufwerfen, ob Lust und Schmerz, statt lediglich auszudrücken, was sich soeben im Organismus zugetragen hat oder zuträgt, wie gewöhnlich angenommen wird, nicht etwa auch ankündigen, was erfolgen wird, was dort einzutreten im Begriff ist. Es scheint allerdings recht wenig wahrscheinlich zu sein, daß die Natur, die so gründlich utilitaristisch ist, hier dem Bewußtsein die die ausschließlich wissenschaftliche Aufgabe zugewiesen habe, uns über Vergangenheit und Gegenwart Auskunft zu erteilen, die doch nicht mehr von uns abhängen. Ferner wäre hervorzuheben, daß man in unmerklichen Abstufungen von den automatischen Bewegungen zu den freien aufsteigt, und daß sich diese letzteren hauptsächlich dadurch von ersteren unterscheiden, daß sie zwischen der äußeren Handlung, die sie veranlaßt, und der beabsichtigten Reaktion, die daraufhin erfolgt, die Einschaltung einer affektiven Empfindung aufweisen. Man könnte sich sehr wohl denken, daß alle unsre Handlungen automatisch wären, und übrigens kennt man organische Wesen der verschiedensten Art, bei denen ein äußerer Reiz eine bestimmte Reaktion erzeugt, ohne daß es dabei zu einem vermittelnden Dazwischentreten des Bewußtseins käme. Wenn bei einigen bevorzugten Wesen Lust und Schmerz auftreten, so geschieht es daher wahrscheinlich zu dem Zwecke, um ihrerseits einen Widerstand gegen die automatische Reaktion zu schaffen, die andernfalls eintreten würde; die Empfindung ist entweder unerklärlich oder sie ist ein Anfang der Freiheit. Wie aber vermöchte sie uns in den Stand zu setzen, der Reaktion entgegenzuwirken, die sich vorbereitet, wenn sie uns deren Natur nicht durch irgendein bestimmtes Zeichen verriete? Und worin sonst könnte dies Zeichen bestehen als im Entwurf und sozusagen in der Präformation der folgenden automatischen Bewegungen unmittelbar in der aufgenommenen Empfindung selbst? Der affektive Zustand hat also nicht bloß den Reizungen, Bewegungen oder physischen Phänomenen zu entsprechen, die stattgefunden haben, sondern obendrein und hauptsächlich denen, die in Vorbereitung sind, die erst zum Dasein gelangen wollen.

Zwar ist zunächst nicht recht einzusehen, wieso diese Hypothese das Problem vereinfachen könne. Denn wir suchen das, was ein physisches Phänomen und ein Bewußtseinszustand unter dem Gesichtspunkt der Größe gemeinsam haben, und es scheint, als werde die Schwierigkeit nur umgekehrt, wenn man den gegenwärtigen Bewußtseinszustand zu einem Hinweis auf die kommende Reaktion macht, statt zur psychischen Übersetzung des vergangenen Reizes. Die beiden Hypothesen unterscheiden sich aber beträchtlich. Denn die molekularen Reize, von denen soeben die Rede war, sind notwendig unbewußt, da ja von diesen Bewegungen als solchen in den Empfindungen, die ihre Übersetzung sind, nichts fortbestehen kann. Doch die automatischen Bewegungen, die die Tendenz haben, dem Reiz zu folgen und als seine natürliche Fortsetzung gelten können, sind wahrscheinlich als Bewegungen bewußt; andernfalls wäre die Empfindung selbst, der die Rolle zufällt, uns zu einer Wahl zwischen jener automatischen Reaktion und andern möglichen Bewegungen zu bestimmen, nicht zu erklären. Die Intensität der affektiven Empfindungen wäre also nichts als unser Bewußtsein von den unwillkürlichen Bewegungen, die in jenen Zuständen ihren Ursprung nehmen, sich dort irgendwie im voraus einzeichnen und ihren freien Lauf nehmen würden, wenn die Natur uns zu Automaten gemacht hätte statt zu bewußten Wesen. Ist diese Schlußfolgerung begründet, so darf ein Schmerz von zunehmender Intensität nicht mit dem Ton einer Skala verglichen werden, der immer stärker wird, sondern eher mit einer Symphonie, bei der sich eine wachsende Zahl von Instrumenten zu Gehör bringt. Im Innern der charakteristischen Empfindung, die für alle anderen den Grundton abgibt, fühlt das Bewußtsein, eine mehr oder weniger beträchtliche Mannigfaltigkeit von Empfindungen, die von verschiedenen Punkten der Peripherie ausgehen, Muskelkontraktionen und organische Bewegungen aller Art: das Konzert dieser elementaren psychischen Zustände drückt die neuen Bedürfnisse des Organismus aus angesichts der ihm angesonnenen neuen Situation. Mit andern Worten, wir taxieren die Intensität eines Schmerzes nach dem Interesse, das ein mehr oder weniger großer Teil des Organismus daran zu nehmen sich veranlaßt sieht. Richet hat beobachtet, daß man seine Schmerzempfindung umso bestimmter lokalisiert, je schwächer der Schmerz ist: wird er stärker, so bezieht man ihn auf das ganze in Mitleidenschaft gezogene Glied. Und er schließt mit der Bemerkung, daß »der Schmerz in dem Maße weiter ausstrahlt, als er an Intensität zunimmt« . Wir meinen, dieser Satz muß umgekehrt und grade die Intensität des Schmerzes durch die Zahl und Ausdehnung der in Mitleidenschaft gezogenen und im Angesicht des Bewußtseins reagierenden Körperteile definiert werden. Um sich davon zu überzeugen, wird es genügen, die bemerkenswerte Schilderung zu lesen, die derselbe Verfasser vom Ekel gibt. »Wenn der Reiz schwach ist, kommt es zu keinem Übelsein und zu keinem Erbrechen ... Wird er stärker, so beschränkt er sich nicht auf den Lungen- und Magennerv, sondern strahlt weiter aus und erstreckt sich beinahe auf das gesamte System des Organismus. Das Gesicht wird blaß, die glatten Hautmuskeln ziehen sich zusammen, die Haut bedeckt sich mit kaltem Schweiß, der Herzschlag setzt aus: mit einem Wort, es liegt eine allgemeine organische Störung vor, als Folge der Reizung des verlängerten Marks, und diese Störung ist der extremste Ausdruck des Ekels« . – Ist sie aber nichts andres als der Ausdruck davon? Worin sonst soll denn die allgemeine Empfindung des Ekels bestehen als in der Summe dieser elementaren Empfindungen? Und was anders ist hier unter zunehmender Intensität zu verstehen als die immer weiter wachsende Zahl von Empfindungen, die zu den bereits apperzipierten Empfindungen hinzukommen? Darwin hat ein packendes Bild der auf einen sich steigernden Schmerz folgenden Reaktionen gezeichnet: »Er treibt das Tier an, immer gewaltsamere und verschiedenartigere Anstrengungen zu machen, um der den Schmerz bewirkenden Ursache zu entkommen ... Bei intensiver Schmerzempfindung wird der Mund stark kontrahiert, die Lippen krampfen sich zusammen und die Zähne werden gegeneinander gepreßt. Bald sind die Augen weit geöffnet, bald ziehen sich die Brauen fest zusammen; der Körper ist in Schweiß gebadet; Blutzirkulation und Atmung verändern sich. – Ist es nicht eben diese Kontraktion der beteiligten Muskeln, an der wir die Intensität des Schmerzes messen? Analysiert man die Vorstellung, die man sich von einer als extrem bezeichneten Schmerzempfindung macht, so versteht man doch wohl darunter, daß sie unerträglich ist, d.h., daß sie den Organismus zu den allerverschiedensten Tätigkeiten reizt, um ihr zu entkommen. Man begreift zwar, daß ein Nerv einen Schmerz übertragen kann, der von jeder automatischen Reaktion unabhängig ist: man begreift auch, daß mehr oder weniger starke Reize diesen Nerv verschieden beeinflussen. Aber diese Unterschiede der Empfindung würden von unserem Bewußtsein niemals als quantitative gedeutet werden, wenn man nicht die mehr oder weniger ausgedehnten, mehr oder weniger einschneidenden Reaktionen damit in Verbindung brächte, die sie zu begleiten pflegen. Ohne diese nachträglich eintretenden Reaktionen wäre die Intensität des Schmerzes eine Qualität und keine Größe.
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Re: Metaphysische Monologe

Beitragvon Ralfchen » 28. Mär 2018, 23:07

https://www.nytimes.com/2018/03/27/opin ... rests.html
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Bergson ZEIT UND FREIHEIT V

Beitragvon Ralfchen » 29. Mär 2018, 15:15

DIE FAUST.png
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BERGSONS DIE FAUST

GRAFIC BY RALFCHEN 90x90 cm 03 2018

Um mehrere Lustempfindungen untereinander zu vergleichen, steht uns kein anderes Mittel zur Verfügung. Was ist eine größere Lustempfindung andres als eine bevorzugte Lust? Und was kann unsre Bevorzugung andres sein als eine gewisse Disposition unsrer Organe, die bewirkt, daß, während zwei Lustempfindungen sich gleichzeitig unserm Gemüte anbieten, unser Körper sich der einen mehr geneigt zeigt? Man analysiere diese Neigung selbst und man wird unzählige kleine Bewegungen finden, die in den beteiligten Organen beginnen und sich dort und sogar in, den übrigen Teilen des Leibes präformieren, gleich als ob der Organismus der vorgestellten Lust entgegenginge. Man gebraucht keine Metapher, wenn man die Neigung als Bewegung definiert. Angesichts mehrerer vom Verstand aufgefaßter Lustempfindungen orientiert sich unser Körper spontan, wie durch eine Reflextätigkeit in der Richtung auf eine unter ihnen. Von uns hängt es ab, eine Hemmung herbeizuführen; doch die Anziehungskraft der Lust ist nichts andres als diese begonnene Bewegung, und die Heftigkeit der Lust selbst während des Genusses liegt in der vis inertiae des Organismus, der in ihr versinkt und jede andere Empfindung zurückweist. Ohne diese vis inertiae, die uns durch das Widerstreben gegenüber ablenkenden Einflüssen bewußt wird, wäre die Lust wiederum ein Zustand und keine Größe. Im Geistigen wie im Physischen dient die Attraktion mehr zur Erklärung der Bewegung als zu ihrer Erzeugung.

Wir haben die affektiven Empfindungen gesondert untersucht. Richten wir nunmehr unser Augenmerk darauf, daß auch viele vorstellungsmäßige Empfindungen einen affektiven Charakter haben und auf diese Weise eine Reaktion unsrerseits hervorrufen, die wir bei der Einschätzung ihrer Intensität in Anrechnung bringen! Eine beträchtliche Lichtvermehrung übersetzt sich für uns durch eine charakteristische Empfindung, die noch kein Schmerz ist, die aber Analogien mit dem Geblendetsein aufweist. In dem Maße, als die Amplitude einer Klangvibration zunimmt, kommt es uns vor, als wenn unser Kopf, dann unser Leib vibrierte oder eine Erschütterung erführe. Gewisse vorstellungsmäßige Empfindungen, die des Geschmacks, des Geruchs und der Temperatur, haben sogar beständig einen angenehmen oder unangenehmen Charakter. Zwischen mehr oder weniger bitteren Geschmäcken wird man schwerlich andre als qualitative Unterschiede ausfindig machen können; sie sind wie die Tönungen ein und derselben Farbe. Doch diese Qualitätsdifferenzen werden sogleich als Quantitätsdifferenzen gedeutet wegen ihres affektiven Charakters und der mehr oder weniger ausgesprochenen Reaktionsbewegungen, ob aus Lust oder Unlust, die sie uns suggerieren. Überdies kann, selbst wenn die Empfindung rein vorstellungsmäßig bleibt, ihre äußere Ursache einen gewissen Stärke- oder Schwächegrad nicht überschreiten, ohne unsrerseits Bewegungen hervorzurufen, die uns dazu dienen, sie zu messen. Bald müssen wir nämlich eine Anstrengung machen, um eine solche Empfindung wahrzunehmen, wie wenn sie sich verbergen wollte; bald dringt sie umgekehrt auf uns ein, drängt sich uns auf und nimmt uns derartig in Beschlag, daß wir aller Anstrengung bedürfen, uns von ihr zu befreien und uns zu behaupten. Im ersteren Falle nennt man die Empfindung wenig intensiv und im letzteren sehr intensiv. So z.B. spannen wir, um einen Ton in der Ferne wahrzunehmen, um einen sogenannten schwachen Geruch oder ein schwaches Licht zu unterscheiden, unsre ganze Aktivität an, wir »sind aufmerksam«. Und Geruch und Licht erscheinen uns in diesem Falle eben deshalb als schwach, weil sie unsrer Anstrengung bedürfen, um an Stärke zu gewinnen. Umgekehrt erkennen wir die Empfindung extremer Intensität an den unwiderstehlichen automatischen Reaktionsbewegungen, die sie in uns hervorruft, oder an der Widerstandslosigkeit, zu der sie uns niederwirft. Ein Kanonenschuß, der an unserm Ohre abgefeuert wird, ein blendendes Licht, das plötzlich aufleuchtet, nehmen uns einen Augenblick lang das Bewußtsein unsres Selbst, und bei einem dazu disponierten Menschen kann dieser Zustand sogar längere Zeit andauern. Man muß hinzufügen, daß wir sogar auf dem Gebiet der sogenannten mittleren Intensitäten, in Fällen also, wo wir der vorstellungsmäßigen Empfindung völlig gewachsen sind, ihre Wichtigkeit oft dadurch erkennen, daß wir sie mit einer andern vergleichen, die sie verdrängt, oder indem wir die Hartnäckigkeit beachten, mit der sie sich immer wieder einstellt. So erscheint das Ticken einer Uhr nachts tonstärker, weil es ohne weiteren Widerstand ein beinahe empfindungs- und vorstellungsleeres Bewußtsein in Beschlag nimmt. Ausländer, die untereinander eine uns unverständliche Sprache reden, machen auf uns den Eindruck, als sprächen sie sehr laut, weil ihre Worte, die in unserm Geist keine Vorstellungen wachrufen, mitten in einer Art intellektueller Bewußtlosigkeit an unser Ohr dringen und wie das Ticken einer Uhr zur Nachtzeit unsre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Jedoch berühren wir mit diesen sogenannten mittleren Empfindungen schon eine Reihe psychischer Zustände, deren Intensität eine neue Bedeutung haben muß. Denn meistenteils reagiert der Organismus soviel wie gar nicht, jedenfalls nicht in deutlich wahrnehmbarer Weise und gleichwohl machen wir eine Tonhöhe, eine Lichtintensität, einen Sättigungsgrad der Farbe zu einer Größe. Zweifellos verspricht uns die genaue Beobachtung dessen, was sich im ganzen Umkreis des Organismus vollzieht, wenn wir diesen oder jenen Ton hören, diese oder jene Farbe sehen, noch allerhand Überraschungen: hat uns doch Ch. Féré gezeigt, daß jede Empfindung von einer Steigerung der Muskelkraft begleitet ist, die sich durch den Dynamometer messen läßt . Wie dem aber auch sei, diese Steigerung fällt dem Bewußtsein nicht auf, und wenn man an die Genauigkeit denkt, mit der Töne und Farben, ja sogar Gewichte und Wärmegrade unterschieden werden, wird man leicht erraten können, daß hier ein neues Element der Einschätzung mit ins Spiel kommen muß. Die Natur dieses Elements ist übrigens leicht zu bestimmen.

In dem Maße nämlich, als eine Empfindung ihren affektiven Charakter verliert, um in den Zustand der Vorstellung überzugehen, haben die Reaktionsbewegungen, die sie unsrerseits hervorrief, die Tendenz zu erlöschen; aber dafür gewahren wir das äußere Objekt, das die Ursache von ihr ist, oder, wenn wir es nicht gewahren, so haben wir es bereits wahrgenommen und denken jetzt nur mehr daran. Nun ist diese Ursache extensiv und folglich meßbar: eine Erfahrung, die wir jeden Augenblick machen, die mit dem ersten Aufleuchten unsres Bewußtseins begonnen hat und während unsrer gesamten Existenz unausgesetzt fortdauert, lehrt uns, daß eine bestimmte Schattierung der Empfindung einer bestimmten Abstufung des Reizes entspricht. Wir assoziieren demnach mit einer gewissen Qualität der Wirkung die Vorstellung einer gewissen Quantität der Ursache; und zuletzt verlegen wir, wie es bei allen erworbenen Perzeptionen der Fall ist, die Vorstellung in die Empfindung, die Quantität der Ursache in die Qualität der Wirkung. In demselben Augenblick wird die Intensität, die bis dahin nur eine gewisse Schattierung oder Qualität der Empfindung war, zu einer Größe. Man kann sich dieses Fortschritts leicht vergewissern, wenn man z.B. in die rechte Hand eine Stecknadel nimmt und sich damit immer tiefer in die linke Hand sticht. Zuerst wird etwas wie ein Kitzeln empfunden, darauf eine Berührung, der ein Stich nach folgt, sodann ein auf einen Punkt lokalisierter Schmerz und schließlich eine Ausstrahlung des Schmerzes in die umgebende Zone. Je mehr man darüber nachdenkt, desto deutlicher wird man einsehen, daß man es hier mit lauter verschiedenen qualitativen Empfindungen zu tun hat, mit lauter Varianten derselben Art. Dennoch redete man eben noch von ein und derselben Empfindung, die immer weiter um sich greife, von einem immer intensiveren Stich. Man lokalisierte eben, ohne darauf zu achten, in der Empfindung der gestochenen linken Hand die progressive Anstrengung der den Stich ausführenden Rechten. Man verlegte also die Ursache in die Wirkung und deutete ohne es zu wissen die Qualität in Quantität, die Intensität in Größe um. Es ist leicht einzusehen, daß die Intensität jeder vorstellungsmäßigen Empfindung auf dieselbe Art und Weise zu verstehen ist.

Die Tonempfindungen liefern uns sehr deutliche Gradabstufungen der Intensität. Wir haben bereits gesagt, daß man den affektiven Charakter dieser Empfindungen und die von der Gesamtheit des Organismus empfangene Erschütterung in Betracht ziehen müsse. Wir haben nachgewiesen, daß ein sehr intensiver Ton ein solcher ist, der unsre ganze Aufmerksamkeit fesselt und alle andern verdrängt. Man abstrahiere aber von jener Erschütterung, jener deutlich charakterisierten Vibration, die man zuweilen im Kopfe oder sogar am ganzen Körper verspürt; man abstrahiere von der gegenseitigen Konkurrenz gleichzeitiger Töne: was bleibt dann noch übrig außer einer undefinierbaren Qualität des vernommenen Tones? Nur wird diese Qualität alsbald in Quantität umgedeutet, da man sie ja ungezählte Male selbst erzielt hat, indem man z.B. auf einen Gegenstand schlug und dadurch ein bestimmtes Quantum von Anstrengung leistete. Man weiß auch, bis zu welchem Grade man seine Stimme anschwellen lassen müßte, um einen analogen Ton hervorzubringen, und die Vorstellung von dieser Anstrengung stellt sich im Augenblicke ein, wo man die Tonintensität zur Größe macht. Wundt hat auf die ganz besonderen Verbindungen der Stimmnervenfasern und Gehörnervenfasern aufmerksam gemacht, die sich im Gehirn des Menschen vollziehen. Und ist doch gesagt worden, daß hören zu sich selbst sprechen heißt. Gewisse Neuropathen können einem Gespräch nicht beiwohnen, ohne die Lippen zu bewegen; das ist nur eine Steigerung dessen, was bei uns allen geschieht. Ließe sich denn das Ausdrucksvermögen oder vielmehr die Suggestionskraft der Musik begreifen, wenn man nicht zugäbe, daß wir innerlich die gehörten Töne wiederholen, so daß wir uns in den psychologischen Zustand hinein- und zurückversetzen, aus dem sie hervorgegangen sind, in einen ursprünglichen Zustand also, der sich nicht näher bestimmen läßt, den uns aber die vom ganzen Körper angenommenen Bewegungen suggerieren?
Wenn wir von der Intensität eines Tones mittlerer Stärke reden wie von einer Größe, spielen wir demnach vor allem auf die größere oder geringere Anstrengung an, die wir zu leisten hätten, wenn wir uns dieselbe Gehörsempfindung wieder schaffen wollten. Neben der Intensität unterscheiden wir jedoch noch eine andere charakteristische Eigenschaft des Tons, die Höhe. Sind nun die Höhenunterschiede, wie unser Ohr sie wahrnimmt, quantitative Unterschiede? Wir geben zu, daß ein höherer Ton das Bild einer höheren räumlichen Lage hervorruft. Aber folgt etwa daraus, daß die Noten der Tonleiter, als Gehörsempfindungen betrachtet, sich anders als der Qualität nach unterscheiden? Vergessen wir, was wir in der Physik gelernt haben, und prüfen wir sorgfältig die Vorstellung, die wir von einer höheren oder tieferen Note haben, so denken wir doch wohl ganz einfach an die geringere oder größere Anstrengung, die der Spannmuskel der Stimmbänder leisten mußte, um diese Note seinerseits hervorzubringen. Da die Anstrengung, durch die die Stimme von einer Note zur nächsten übergeht, diskontinuierlich ist, stellen wir uns diese sukzessiven Noten wie Punkte im Raum vor, die man einen nach dem andern in Einzelsprüngen erreicht, indem man dabei jedesmal ein leeres Intervall überschreitet: und das eben ist der Grund, weswegen wir zwischen die Noten der Tonleiter Intervalle setzen. Es fragt sich allerdings noch, weshalb die Linie, auf der wir sie stufenweise aufbauen, vertikal und nicht vielmehr horizontal ist, und weshalb wir sagen, daß der Ton in einigen Fällen steige und in andern falle. Es ist unbestreitbar, daß uns die hohen Töne Resonanzwirkungen im Kopf und die tiefen solche im Brustkorb zu erzeugen scheinen: diese Wahrnehmung, mag sie nun auf Wirklichkeit oder auf Einbildung beruhen, hat zweifellos dazu beigetragen, daß wir die Intervalle vertikal zählen. Auch ist zu erwähnen, daß, je mehr bei der Bruststimme die Spannung der Stimmbänder zunimmt, der ungeübte Sänger die beteiligte Körperoberfläche sich um so mehr ausdehnen läßt, denn eben aus diesem Grunde empfindet er die Anstrengung als eine intensivere. Und da er die Luft von unten nach oben ausatmet, wird er dem Ton dieselbe Richtung zuschreiben, die der Luftzug einschlägt; die Mittätigkeit eines größeren Teiles seines ganzen Körpers mit den Stimmmuskeln wird also durch eine Bewegung von unten nach oben zum Ausdruck gelangen. Wir sagen alsdann, die Note sei höher, weil der Körper eine Anstrengung macht, gleich als wollte er einen Gegenstand erreichen, der im Raume höher gelegen ist. Auf diese Art hat sich die Gewohnheit eingebürgert, jeder Note der Tonleiter eine Höhe zuzuweisen, und von dem Tage an, wo der Physiker sie durch die Zahl der ihr innerhalb einer gegebenen Zeit entsprechenden Vibrationen definieren konnte, haben wir nicht mehr gezögert zu sagen, daß unser Ohr unmittelbar Quantitätsunterschiede wahrnimmt. Der Ton aber bliebe reine Qualität, wenn wir die Muskelanstrengung, die ihn hervorrufen soll, oder die Vibration, die ihn erklärt, nicht in ihn hineintrügen.
Die neuesten Experimente von Blix, Goldscheider und Donaldson haben gezeigt, daß Kälte und Wärme nicht von denselben Punkten der Körperoberfläche empfunden werden. Die Physiologie ist daher jetzt geneigt, zwischen den Empfindungen von Wärme und Kälte einen Unterschied der Natur und nicht mehr bloß des Grades aufzustellen. Doch die psychologische Beobachtung geht noch weiter; ein aufmerksames Bewußtsein würde nämlich leicht spezifische Unterschiede zwischen den verschiedenen Empfindungen von Wärme antreffen, wie auch zwischen den Empfindungen von Kälte. Eine intensivere Wärme ist wirklich eine andere Wärme. Wir nennen sie intensiver, weil wir ungezählte Male diese selbe Veränderung erfahren haben, wenn wir uns einer Wärmequelle näherten, oder wenn ein größerer Teil der Körperoberfläche ihrem Eindruck ausgesetzt war. Zudem werden die Wärme-und Kälteempfindungen sehr schnell affektiv und rufen dann unsrerseits mehr oder weniger ausgesprochene Reaktionen hervor, je nach Maßgabe der äußeren Ursache: und natürlich machen wir dann analoge quantitative Unterschiede zwischen den Empfindungen, die den unterschiedlichen Stärkegraden dieser Ursache entsprechen. Wir wollen nicht weiter hierauf eingehen; jeder befrage sich sorgfältig über diesen Punkt, indem er alles, was die vergangene Erfahrung ihn über die Ursache der Empfindung gelehrt hat, in seinem Gedächtnis auslöscht und sich der Empfindung als solcher unmittelbar gegenüberstellt. Das Ergebnis dieser Prüfung erscheint uns nicht zweifelhaft: man wird sich alsbald überzeugen, daß die Größeneigenschaft der vorstellungsmäßigen Empfindung daher kommt, daß man die Ursache in die Wirkung verlegt und daß die Intensität des affektiven Elements daraus entspringt, daß man in die Empfindung die mehr oder weniger bedeutenden Rektionsbewegungen einbezieht, in die der äußere Reiz sich fortsetzt. Dieselbe Untersuchung möchten wir für die Druck- und selbst Gewichtsempfindungen angestellt wissen. Sagt man, ein auf die Hand ausgeübter Druck werde immer stärker, so sehe man zu, ob dabei nicht etwa vorgestellt wird, daß die Berührung zum Druck, dieser zum Schmerz geworden ist, und daß der Schmerz wieder, nachdem er mehrere Phasen durchlaufen, sich der Umgebung mitgeteilt hat. Man beachte außerdem und insbesondere, ob man nicht die immer intensiver d.h. ausgedehnter werdende, widerstrebende Kraftanstrengung mit einbezogen hat, die dem äußeren Druck entgegengesetzt wird.

Wenn der Psychophysiker ein schwereres Gewicht hebt, so nimmt er, wie er behauptet, ein Anwachsen der Empfindung wahr. Man prüfe nun, ob dieses Anwachsen der Empfindung nicht vielmehr eine Empfindung des Anwachsens genannt werden müsse. Die ganze Frage dreht sich um diesen Punkt; denn im ersteren Falle wäre die Empfindung eine Quantität, wie ihre äußere Ursache, im zweiten eine Qualität, die für die Größe ihrer Ursache stellvertretend geworden ist. Die Unterscheidung von schwer und leicht könnte wohl als ebenso rückständig und als ebenso naiv erscheinen wie die zwischen warm und kalt. Aber gerade die Naivität dieser Unterscheidung macht sie zu einer psychologischen Tatsächlichkeit. Das Schwere und das Leichte bedeuten für unser Bewußtsein nicht nur verschiedene Gattungen, sondern die Grade der Leichtigkeit und Schwere sind ihrerseits wieder Arten dieser beiden Gattungen. Dabei ist hinzuzufügen, daß der Qualitätsunterschied sich hier spontan in einen Quantitätsunterschied übersetzt, wegen der mehr oder weniger ausgedehnten Kraftanstrengung, die der Körper aufbietet, um ein gegebenes Gewicht emporzuheben. Man kann jedermann leicht davon überzeugen, wenn man ihn auffordert, einen Korb emporzuheben, von dem man ihm sagt, er sei mit Eisenzeug angefüllt, während er tatsächlich leer ist. Er wird das Gleichgewicht zu verlieren meinen, wenn er ihn anfaßt, als hätten entferntere Muskeln sich im voraus für die Arbeitsleistung bereitgehalten und erführen nun eine plötzliche Enttäuschung. Hauptsächlich die Zahl und die Natur dieser sympathetischen Kraftanstrengungen, die sich an verschiedenen Stellen des Organismus vollziehen, geben den Maßstab ab für die Empfindung der Schwere an einem gegebenen Punkte; und diese Empfindung wäre nichts andres, als eine Qualität, führte man nicht auf diese Weise die Vorstellung einer Größe ein. Was übrigens die Täuschung in diesem Punkt bestärkt, ist die eingewurzelte Gewohnheit, an die unmittelbare Perzeption einer homogenen Bewegung im homogenen Raum zu glauben. Wenn ich mit dem Arm ein leichtes Gewicht hebe, während der ganze übrige Körper unbewegt bleibt, habe ich eine Reihe von Muskelempfindungen, deren jede ihr »Lokalzeichen«, ihre eigene Nuance hat; diese Reihe nun deutet das Bewußtsein im Sinn einer kontinuierlichen Bewegung im Raum. Wenn ich sodann ein schwereres Gewicht mit gleicher Geschwindigkeit auf dieselbe Höhe hebe, durchlaufe ich eine neue Serie von Muskelempfindungen, deren jede vom korrespondierenden Glied der vorangegangenen Reihe unterschieden ist, wovon ich mich bei genauem Zusehen mühelos überzeugen kann. Da ich aber auch diese neue Serie wieder im Sinne einer kontinuierlichen Bewegung deute und da diese Bewegung dieselbe Richtung, dieselbe Dauer und Geschwindigkeit hat wie die vorangehende, so muß mein Bewußtsein notgedrungen den Unterschied zwischen der zweiten und ersten Empfindungsreihe anderswo lokalisieren als in der Bewegung selbst. Es verlegt alsdann diese Differenz ans Ende des Arms, der die Bewegung ausführt; es redet sich ein, daß die Bewegungsempfindung in beiden Fällen die gleiche war, während die Gewichtsempfindung verschiedene Größen aufwies. Bewegung und Gewicht sind aber Unterscheidungen des reflektierenden Bewußtseins: das unmittelbare Bewußtsein hat gewissermaßen die Empfindung einer schwerwiegenden Bewegung, und diese Empfindung selbst löst sich bei der Analyse in eine Reihe von Muskelempfindungen auf, deren jede durch ihre Nuance den Ort ihres Vollzugs und durch ihre Färbung die Größe des gehobenen Gewichts repräsentiert.
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Bergson ZEIT UND FRTEIHEIT VI

Beitragvon Ralfchen » 29. Mär 2018, 15:19

BEGRSONS SCHWARZ GRAU WEISS.png
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BERGSONS SCHWARZ GRAU WEISS
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Werden wir nun die Intensität des Lichts Quantität nennen, oder werden wir sie wie eine Qualität behandeln? Man hat vielleicht der Menge der sehr verschiedenen Elemente nicht genügend Beachtung geschenkt, die im täglichen Leben dazu beitragen, uns über die Natur der Lichtquelle zu unterrichten. Wir wissen längst, daß ein solches Licht entfernt oder am Erlöschen ist, wenn wir Mühe damit haben, uns die Umrisse und Einzelheiten der Gegenstände klar zu machen. Und ebenso hat die Erfahrung uns gezeigt, daß jene affektive Empfindung, die wir in gewissen Fällen als Vorspiel des Geblendetseins erleiden, einer höheren Kraft der Ursache beizumessen ist. Je nachdem man die Zahl der Lichtquellen vermehrt oder vermindert, heben sich die Kanten der Körper nicht in der gleichen Weise ab und ebensowenig die Schatten, die sie werfen. Wir glauben indessen, daß den Veränderungen in der Färbung, die farbige Flächen, selbst die reinen Farben des Spektrums unter dem Einfluß eines schwächeren oder helleren Lichts erleiden, eine noch größere Bedeutung zugeschrieben werden muß. In dem Maße, als die Lichtquelle näher rückt, fällt Violett ins Bläuliche, geht Grün in Weißlichgelb und Rot in Hellgelb über. Umgekehrt geht Ultramarinblau in Violett und Gelb in Grün über, wenn sich das Licht entfernt; schließlich nähern sich rot, grün und violett dem Weißlichgelben. Diese Färbungsveränderungen sind seit einiger Zeit von den Physikern beobachtet worden ; was aber, nach unserer Meinung, ganz anders ins Gewicht fällt, ist, daß die meisten Menschen sie gar nicht beachten, es sei denn, daß sie besondere Aufmerksamkeit anwenden oder darauf hingewiesen werden. Entschlossen wie wir sind, die Qualitätsveränderungen als Quantitätsveränderungen zu deuten, stellen wir sofort als Prinzip auf, daß jeder Gegenstand seine eigene bestimmte und unveränderliche Farbe habe. Und wenn die Färbung der Gegenstände sich an Gelb oder Blau annähert, behaupten wir, statt zu sagen, daß wir ihre Farbe unter der Einwirkung eines Anwachsens oder einer Verminderung der Belichtung sich ändern sehen, daß diese Farbe die gleiche bleibe, daß aber unsre Empfindung der Lichtintensität zu- oder abnehme. Abermals substituieren wir also dem von unserm Bewußtsein empfangenen qualitativen Eindruck die vom Verstande gelieferte quantitative Deutung. Helmholtz hat auf ein Deutungsphänomen gleicher Art, nur ein noch verwickelteres, hingewiesen: »Wenn man«, sagt er, »aus zwei Spektralfarben Weiß zusammensetzt und die Intensitäten der zwei chromatischen Lichter im selben Verhältnis vermehrt oder vermindert, dergestalt, daß die Proportionen der Mischung gleich bleiben, so bleibt die resultierende Farbe dieselbe, obgleich das Verhältnis der Stärke der Empfindungen eine wesentliche Veränderung erfährt ... Das kommt daher, daß das Sonnenlicht, das wir bei Tage als das normale Weiß betrachten, selbst analoge Modifikationen in seiner Nuance erleidet, wenn die Lichtintensität variiert« .

Man betrachte aufmerksam ein Blatt Papier, das z.B. durch vier Kerzen beleuchtet ist und lösche nacheinander eine, zwei, drei davon aus. Man wird sagen, die Fläche bleibe weiß und ihre Helligkeit verringere sich. Man weiß ja allerdings, daß man eine Kerze ausgelöscht hat; oder, weiß man es nicht, so hat man oft genug eine analoge Veränderung des Aussehens einer weißen Fläche beobachtet, wenn man die Beleuchtung verringerte. Man abstrahiere indessen von seinen Erinnerungen und Sprachgewohnheiten: was man wirklich bemerkt hat, ist nicht eine Beleuchtungsveränderung der weißen Fläche, sondern eine Schicht von Schatten, die im Augenblick des Auslöschens der Kerze über diese Fläche hingeglitten ist. Dieser Schatten ist für das Bewußtsein eine Realität so gut wie das Licht. Nannte man die ursprüngliche Fläche in all ihrer Helligkeit weiß, so verlangt das jetzt Gesehene einen andern Namen; denn es ist etwas anderes: es wäre, könnte man sich so ausdrücken, eine neue Nuance von Weiß. Ist es noch nötig, das übrige zu sagen? Durch unsre vergangene Erfahrung und auch durch die physikalischen Theorien sind wir gewöhnt, Schwarz als ein Fehlen oder wenigstens als ein Minimum von Lichtempfindung und die sukzessiven Nuancen von Grau als abnehmende Intensitäten des weißen Lichts anzusehen. Nun, Schwarz ist für unser Bewußtsein so real wie Weiß, und die abnehmenden Intensitäten des weißen Lichts, das eine gegebene Fläche beleuchtet, wären für ein unvoreingenommenes Bewußtsein lauter verschiedene Nuancen, etwa analog den verschiedenen Farben des Spektrums. Dies wird dadurch bewiesen, daß die Veränderung in der Empfindung nicht kontinuierlich ist wie die der äußern Ursache, daß das Licht eine Zeitlang zu- und abnehmen kann, ohne daß uns die Beleuchtung der weißen Fläche zu wechseln schiene: sie wird nämlich nur dann zu wechseln scheinen, wenn die Vermehrung oder Verminderung des äußeren Lichts hinreicht, eine neue Qualität zu erzeugen. Die Helligkeitsvariationen einer gegebenen Farbe würden sich also – abgesehen von den affektiven Empfindungen, von denen oben die Rede war – auf qualitative Veränderungen reduzieren, hätten wir nicht die Gewohnheit angenommen, die Ursache in die Wirkung zu verlegen und unsern unbefangenen Eindrücken zu substituieren, was uns Experiment und Wissenschaft lehren. Dasselbe würde von den Sättigungsgraden gelten. Wenn nämlich die verschiedenen Intensitäten einer Farbe ebensovielen verschiedenen Schattierungen zwischen dieser Farbe und dem Schwarzen entsprechen, so sind die Sättigungsgrade wie vermittelnde Schattierungen zwischen eben derselben Farbe und dem reinen Weiß. Wir würden also sagen, jede Farbe könne unter einem doppelten Aspekt betrachtet werden, nämlich vom Standpunkt des Schwarzen wie des Weißen. Das Schwarze verhielte sich zur Intensität wie das Weiße zur Sättigung.
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Bergson ZEIT UND FRTEIHEIT VII

Beitragvon Ralfchen » 30. Mär 2018, 14:33

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BERGSON LICHTEMPFINDUNG
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Jetzt wird der Sinn der photometrischen Experimente begreiflich geworden sein. Eine in gewisser Entfernung eines Blatts Papier aufgestellte Kerze erleuchtet es in einer bestimmten Weise: Man verdoppelt die Entfernung und konstatiert dabei, daß vier Kerzen nötig sind, um dieselbe Empfindung zu erzielen. Hieraus wird der Schluß gezogen, daß, wenn man die Entfernung verdoppelt hätte, ohne die Intensität der Lichtquelle zu vermehren, der Beleuchtungseffekt viermal weniger beträchtlich gewesen wäre. Es liegt jedoch auf der Hand, daß es sich hier um die physikalische Wirkung und nicht um die psychologische handelt. Man kann nämlich nicht sagen, wir hätten zwei Empfindungen untereinander verglichen: wir haben uns eine einzelne Empfindung nutzbar gemacht, um zwei verschiedene Lichtquellen untereinander zu vergleichen, deren zweite das vierfache des ersten, aber zweimal so weit entfernt ist als sie. Mit einem Worte, der Physiker läßt niemals Empfindungen auftreten, die das Doppelte oder Dreifache voneinander wären, sondern nur identische Empfindungen, die zwischen zwei dann eine Gleichsetzung untereinander zulassenden physikalischen Quantitäten die Vermittlungsrolle zu übernehmen haben. Die Lichtempfindung spielt hier die Rolle jener unbekannten Hilfskonstruktionn, wie sie der Mathematiker in seine Rechnungen einführt, um sie im Endresultat wieder verschwinden zu lassen.
Etwas ganz anderes ist das Objekt des Psychophysikers: er studiert die Lichtempfindung als solche und behauptet, sie zu messen. Bald wird er zu einer Integration unendlich kleiner Unterschiede fortschreiten, wie nach der Methode Fechners; bald wird er eine Empfindung mit einer andern Empfindung direkt vergleichen. Diese letztere Methode, die Plateau und Delbœuf zu verdanken ist, unterscheidet sich von der Fechnerschen weit weniger als man bisher glaubte; da sie aber in noch speziellerem Maße die Lichtempfindungen angeht, wollen wir uns zunächst mit ihr beschäftigen. Delbœuf stellt einen Beobachter drei konzentrischen Ringen von variabler Helligkeit gegenüber. Eine sinnreiche Vorrichtung ermöglicht, jeden dieser Ringe sämtliche zwischen Weiß und Schwarz liegende Schattierungen durchlaufen zu lassen. Setzen wir den Fall, an zwei Ringen seien gleichzeitig zwei graue Töne hervorgerufen und unverändert erhalten worden; wir werden sie z.B. A und B nennen. Delbœuf läßt nun die Tönung C des dritten Ringes eine Veränderung erfahren und sich vom Beobachter sagen, ob ihm in einem bestimmten Augenblicke die graue Tönung B von den andern beiden gleichweit entfernt vorkomme. Tatsächlich kommt ein Augenblick, wo der Beobachter den Unterschied AB für dem Unterschied BC gleich erklärt, so daß man nach Delbœuf eine Stufenleiter von Lichtintensitäten konstruieren könnte, nach der man von jeder Empfindung durch empfindbare gleiche Unterschiede zur nächsten überginge: unsre Empfindungen würden demnach aneinander meßbar sein. Wir wollen Delbœuf nicht bis in die Schlußfolgerungen begleiten, die er aus diesen interessanten Experimenten gezogen hat: die wesentliche Frage, die einzige unsres Erachtens, ist die, ob ein Unterschied AB, der aus den Elementen A und B besteht, wirklich einem Unterschiede BC gleich ist, der anders zusammengesetzt ist. Wenn erst einmal festgestellt wäre, daß zwei Empfindungen gleich sein können, ohne identisch zu sein, dann stünde die Psychophysik auf festem Boden. Diese Gleichheit aber scheint uns anfechtbar: in der Tat ist es leicht zu erklären, wieso eine Empfindung von Lichtintensität von zwei andren gleich weit entfernt genannt werden kann.


Nehmen wir vorübergehend an, die Intensitätsvariationen einer Lichtquelle hätten sich seit unsrer Geburt unserm Bewußtsein durch die sukzessive Wahrnehmung der verschiedenen Farben des Spektrums kundgegeben. Es besteht kein Zweifel, daß uns in diesem Falle jene Farben genau wie die Noten einer Tonskala, wie die mehr oder weniger hohen Stufen einer Leiter, mit einem Worte wie Größen vorkommen würden. Andrerseits würden wir jeder dieser Farben leicht ihren Platz in der Reihe anweisen können. Während nämlich die extensive Ursache in kontinuierlicher Weise variiert, verändert sich die Farbenempfindung in diskontinuierlicher Weise, indem sie von einer Nuance in eine andre Nuance übergeht. So zahlreich also auch die Nuancen zwischen zwei Farben A und B sein mögen, man wird sie in Gedanken immer wenigstens im groben zählen und sich vergewissern können, ob diese Zahl ungefähr der Zahl der Nuancen gleich ist, die B von einer andern Farbe C trennen. In diesem letzteren Falle wird man sagen, B sei von A und von C gleichwet entfernt, der Unterschied sei beiderseits derselbe. Es wäre dies aber, immer nur eine bequeme Deutungsweise: denn obwohl die Zahl der Zwischennuancen auf beiden Seiten gleich ist, und man von der einen zur andern ruckweise übergeht, wissen wir noch nicht, ob diese Rucke Größen, auch nicht, ob sie gleiche Größen sind: man müßte uns vor allen Dingen nachweisen können, daß die zur Messung benutzten Zwischennuancen sich gewissermaßen im Innern des gemessenen Gegenstands wiederfinden lassen. Ist dies nicht der Fall, dann kann eine Empfindung nur metaphorisch als von zwei andern gleich weit entfernt bezeichnet werden.
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SENECAS BRIEFE AN LUCILIUS...1

Beitragvon Ralfchen » 2. Apr 2018, 15:45

SENECA I Kopie.png
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SENECA

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https://www.youtube.com/watch?v=-by4SQt_ypw
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Re: Metaphysische Monologe

Beitragvon Ralfchen » 6. Apr 2018, 07:38

Gerne liebe Margret -

Das ist der erste Anfang.

Liebe Grüße
R
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Re: Metaphysische Monologe

Beitragvon Ralfchen » 6. Apr 2018, 15:51

DIE HÖHLE SMALL.jpg
DIE HÖHLE SMALL.jpg (235.15 KiB) 98712-mal betrachtet


ALLEGORY OF THE CAVE
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Das Höhlengleichnis
Platon (428– 348 v.Chr.)

SOKRATES: Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht
obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. –

GLAUKON: Ich sehe, sagte er. –

Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer
herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. –

Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene.


Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? –

Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu
halten! –


Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? –

Was sonst? –

Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden,
dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? –

Notwendig. –


Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden
denken, etwas anderes rede als der eben
vorübergehende Schatten? –

Nein, beim Zeus, sagte er. –

Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? –

Ganz unmöglich. –


Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen
würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen wurde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte,
damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben,
was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? –

Bei weitem, antwortete er. –

Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? –

Allerdings. –

Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen
Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn andas Licht der Sonne gebracht hätte, wird er
nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungernschleppen lassen? Und wenn er nun an das
Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von
dem, was nun für das Wahre gegeben wird. –

Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich. –


Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er
Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im
Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel
selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in
die Sonne und in ihr Licht. –

Wie sollte er nicht! –

Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder
anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten
imstande sein. – Notwendig, sagte er. – Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft
und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. –

Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. –

Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnunggedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er
werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? –

Ganz gewiß. –

Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am bestenbehielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher alsoam besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen "das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann" und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben? –

So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. –

Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? –

Ganz gewiß. –

Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinauf bringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?

So sprächen sie ganz gewiß, sagte er.
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SAH SOKRATES SO AUS? MAG SEIN...

Beitragvon Ralfchen » 6. Apr 2018, 17:58

SAH SOKRATES SO AUS? MAG SEIN...

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INTERVIEW PAUL FEYERABEND IN ROM 1993, DARMSTADT

Beitragvon Ralfchen » 15. Apr 2018, 14:34

Ein knappes Jahr vor dessen Tod traf sich der renommierte Autor Rüdiger Safranski mit Paul Feyerabend zu einem philosophischen Gespräch in Rom. So kommt natürlich auch hier Feyerabends bekannte, kritische Haltung gegenüber den Wissenschaften zur Sprache, denen er vorwirft, ohne Rücksicht auf eventuelle gesellschaftliche Folgen nach Wissen zu streben. Er gibt offen zu, dass er sich nach den alten Zeiten zurücksehnt, als die Natur noch vom Göttlichen durchdrungen schien und die Umwelt noch nicht völlig zum seelenlosen Objekt degradiert war. Dem Glauben steht der frühere radikale Atheist jetzt auch wesentlich toleranter gegenüber. Er meint, der Mensch brauche im Leben einen Halt, warum sollte er den nicht auch im Glauben finden? Weitere Themen sind Aufklärung und Unmündigkeit, Tierversuche, die Vernunft, sowie die Frage, ob Philosophie Lebenshilfe leisten könne. Immer spricht sich Feyerabend dafür aus, seinen eigenen Verstand einzusetzen, nicht blind irgendwelchen Ideologien und Dogmen zu vertrauen, seien diese nun von religiösen Lehrern, Ärzten oder Wissenschaftlern postuliert. Erfrischend undogmatisch sind seine Auffassungen, die er mit trockenem Humor zu würzen versteht. Sicher erscheint der ehemals radikale Kritiker hier auch ein wenig altersweise, aber eben vor allem von tiefer Humanität durchdrungen. Das Gespräch findet in frühlingshafter Atmosphäre auf einer Café-Terrasse statt, die einzelnen Gesprächsabschnitte werden zum Atemholen und Nachdenken unterbrochen von Ausblicken auf römische Alltagsszenen. Für Zuschauer, denen Feyerabend keinerlei Begriff ist, werden die in rascher Folge vorgetragenen Gedanken dennoch eher schwer verständlich bleiben, ansonsten ist der Film ein sehenswertes Dokument eines eindrucksvollen Denkers des 20. Jahrhunderts.




https://www.youtube.com/watch?v=sE1mkIb1nmU

https://www.youtube.com/watch?v=FaRD4DqbaHI
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PAUL FEYERABEND

Beitragvon Ralfchen » 18. Apr 2018, 14:21

paul feyerabend.jpg
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(Quelle WIKIPEDIA)



Paul Karl Feyerabend (* 13. Januar 1924 in Wien; † 11. Februar 1994 in Genolier im schweizerischen Waadtland) war ein österreichischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. Er war von 1958 bis 1989 Philosophieprofessor an der Universität von Kalifornien in Berkeley und lebte zeitweilig in England, Deutschland, Neuseeland, Italien, zuletzt in der Schweiz, wo er als Hochschullehrer an der ETH Zürich tätig war.

Bekannt wurde Feyerabend durch seinen wissenschaftstheoretischen Anarchismus. Nach Feyerabend lassen sich keine universellen und ahistorischen wissenschaftlichen Methoden formulieren, produktive Wissenschaft müsse vielmehr Methoden nach Belieben verändern, einführen und aufgeben dürfen. Zudem gebe es keine allgemeinen Maßstäbe, mit denen man verschiedene wissenschaftliche Methoden oder Traditionen bewerten könne. Das Fehlen allgemeiner Bewertungsmaßstäbe führt Feyerabend zu einem philosophischen Relativismus, nach dem keine Theorie allgemein wahr oder falsch ist.

Kindheit, Jugend, Krieg

Paul Feyerabend wurde 1924 in Wien geboren. Der Sohn einer Mittelstandsfamilie besuchte ein Realgymnasium und war ein Schüler mit überdurchschnittlichen Leistungen. Die Eltern hatten infolge des Ersten Weltkrieges sowie der Inflation lange gewartet, bevor sie ihr einziges Kind bekamen: Paul Feyerabends Mutter war bei seiner Geburt bereits vierzig Jahre alt.

In Kontakt mit der Philosophie kam Feyerabend nach eigenen Angaben durch einen Zufall: „Wenn man sich nach Literatur umsah, die zum Verkauf bestimmt war, konnte man tonnenweise Bücher für nur ein paar Groschen erwerben. […] Ich konnte es nicht vermeiden, daß hin und wieder auch ein Band von Plato, Descartes oder Büchner (dem Materialisten, nicht dem Dichter) darunter waren. Ich habe diese unerwünschten Zugaben dann wohl aus Neugier gelesen oder einfach, weil ich dafür bezahlt hatte.“[1]

Im März 1938 wurde Österreich Teil des deutschen Reiches, am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg und veränderte auch das Leben des 15-Jährigen. Feyerabends Eltern begrüßten den Anschluss Österreichs, Feyerabend beschreibt sein Verhältnis zu den Nazis als naiv und relativ emotionslos. Er wurde nicht zu einem glühenden Anhänger, reagierte jedoch auch auf die im Krieg erlebten Grausamkeiten nicht mit Empörung. 1940 begann Feyerabend mit dem Reichsarbeitsdienst, 1942 wurde er Teil eines Pionierkorps, 1943 besuchte er eine Offiziersschule. Er wurde für die Ausbildung nach Jugoslawien geschickt; nach Feyerabend war die Offiziersschule insbesondere ein Weg, den Kriegseinsatz zu umgehen. In Jugoslawien erfuhr er von der Selbsttötung seiner Mutter, ein Ereignis, das ihn damals nicht sehr bewegte. Feyerabend wurde noch im September 1943 nach Russland geschickt, wo er sich nach eigenen Angaben leichtsinnig und theatralisch verhielt und dafür bis zum Leutnant befördert wurde.

Im letzten Kriegsjahr wurde Feyerabend auf dem Rückzug von mehreren Kugeln in den Magen und die Hand getroffen. „Ich verspürte keinen Schmerz, aber ich war überzeugt, daß meine Beine getroffen waren. Einen Augenblick sah ich mich im Rollstuhl an einer endlosen Bücherwand entlangfahren – ich war fast glücklich. Die Soldaten, die schleunigst aus dem Kampfgebiet kommen wollten, standen um mich herum, hoben mich auf einen Schlitten und zogen mich weg. Für mich war der Krieg vorbei.“[2] Feyerabends schwere Verletzungen bewirkten, dass er sein Leben lang starke Schmerzen hatte, an einem Stock gehen musste und impotent geworden war. Er wurde in eine Klinik in Apolda gebracht; nach Kriegsende studierte er für ein Jahr Gesang im nahen Weimar.
Studienzeit

1947 kehrte Feyerabend aus Weimar nach Wien zurück. Seine frühere Leidenschaft – die Physik – schien ihm nach Kriegsende lebensfremd, und so begann er mit dem Studium der Geschichte und Soziologie. Bald langweilten ihn jedoch seine Vorlesungen, er wechselte noch im gleichen Jahr zur Physik. Unter den Physikern an der Universität Wien machte insbesondere Felix Ehrenhaft Eindruck auf Feyerabend. Bald kam er durch Victor Kraft zudem in Kontakt mit der akademischen Philosophie. Kraft war im Gegensatz zu den anderen bekannten Mitgliedern des Wiener Kreises in Österreich geblieben und hatte um sich eine Gruppe von Philosophen und Studenten versammelt – den so genannten „Kraft-Kreis“. Unter ihnen war auch Feyerabend, der im Kraft-Kreis die Gelegenheit bekam, mit Philosophen wie Walter Hollitscher, G.E.M. Anscombe oder Ludwig Wittgenstein zu diskutieren. In dieser Zeit übernahm Feyerabend zentrale Überzeugungen des logischen Empirismus: „Das war übrigens die Haltung bei all meinen Diskussionbeiträgen: die Wissenschaft ist die Grundlage des Wissens, Wissen ist empirisch, nicht-empirische Überlegungen sind entweder Logik oder Unsinn.“[3]

Entscheidend für Feyerabends weitere Entwicklung wurde das Forum Alpbach, an dem er 1948 erstmals teilnahm. In Alpbach lernte Feyerabend Hanns Eisler, Bertolt Brecht und nicht zuletzt Karl Popper kennen. Das Angebot, bei Brecht als Assistent zu arbeiten, schlug Feyerabend aus.[4] Stattdessen wollte er nach seiner Promotion 1951 mit einem Stipendium des British Council bei Wittgenstein in Cambridge studieren. Da Wittgenstein jedoch 1951 verstarb, ging Feyerabend zu Popper an die London School of Economics and Political Science. Der Einfluss Poppers wurde in mehrfacher Hinsicht bestimmend für Feyerabends philosophische Entwicklung. Zunächst übernahm er den Falsifikationismus und wurde tief von Poppers Denken geprägt. Später wandte er sich jedoch von Poppers kritischem Rationalismus ab und machte ihn zum Hauptgegner des eigenen wissenschaftstheoretischen Anarchismus.
Von Bristol nach Berkeley

1955 bekam Feyerabend seine erste akademische Stelle an der University of Bristol, wo er eine Vorlesung über Wissenschaftstheorie zu halten hatte. Die Stelle war wohl nicht zuletzt dem Einfluss Poppers zu verdanken, allerdings zeigten sich nach Feyerabend erste Brüche: John Watkins „[…] ging mit ernstem Gesicht auf und nieder und hielt mir eine Strafpredigt, weil ich ein schlechter Popperianer war: zu wenig Popper im Text meiner Aufsätze und schon gar keinen Popper in den Fußnoten. Als ich ihm dann im Detail erklärte, daß man an einigen Stellen doch ein bißchen Popper herauslesen konnte, gab er einen Seufzer der Erleichterung von sich, führte mich ins Wohnzimmer und erlaubte mir zu essen.“[5] Feyerabends Schriften der 1950er und frühen 1960er Jahre sind dennoch stark durch Poppers Falsifikationismus geprägt.[6] Während seiner Zeit in Bristol heiratete Feyerabend zum zweiten Mal, die Ehe wurde jedoch, wie auch schon die erste, schnell geschieden. In dieser Situation war Feyerabend glücklich, dass ihm 1958 das Angebot gemacht wurde, ein Jahr an der University of California, Berkeley, zu verbringen.

Berkeley wurde für über 30 Jahre zum Hauptwohnsitz von Feyerabend. Der Wechsel von Europa in die USA war auf verschiedene Weisen prägend: Zunächst kam Feyerabend insbesondere durch seine Besuche am Minnesota Center for the Philosophy of Science schnell in engen Kontakt mit der amerikanischen Philosophieszene. Unter den Bekanntschaften waren zum einen viele alte Vertreter des Wiener Kreises wie Herbert Feigl, Rudolf Carnap und Carl Gustav Hempel, zum anderen jüngere Vertreter der amerikanischen analytischen Philosophie wie John Searle und Hilary Putnam. 1965 veröffentlichte Feyerabend seine erste ausführliche, wissenschaftstheoretische Schrift, Problems of Empiricism.[7] Dieser lange Essay enthält bereits viele radikale Überlegungen, basiert jedoch auf einem philosophischen Realismus und führte Feyerabend noch nicht zu einer unbedingten Konfrontation mit der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie.

Des Weiteren war das politische Klima Berkeleys und der San Francisco Bay Area prägend: 1964 machte die Free Speech Movement Berkeley zum linksrevolutionären Zentrum der USA, drei Jahre später war die Hippiebewegung im benachbarten San Francisco mit dem Summer of Love auf ihrem Höhepunkt angelangt. Feyerabend hat in seinen Schriften immer wieder betont, dass die Erfahrungen mit den politischen Bewegungen und der Multikulturalität der Bay Area seine philosophischen Gedanken stark geprägt haben. So erklärt er etwa in Bezug auf die multikulturelle Studentenschaft: „Wer war ich, um diesen Menschen zu erklären, was und wie sie denken sollten? Ich hatte keine Ahnung von ihren Problemen, obwohl ich wusste, dass sie viele Probleme hatten. Ich kannte nicht ihre Interessen, ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Hoffnungen […]. Denn diese Aufgabe [gemeint ist das Dozieren der Tradition des westlichen Rationalismus] war die eines gebildeten und vornehmen Sklavenhalters. Und ein Sklavenhalter wollte ich nicht sein.“[8]

Feyerabends lange Zeit in Berkeley änderte jedoch nichts an seiner Rastlosigkeit und der Unzufriedenheit mit seiner neuen Heimat. Über die Jahre nahm er viele (Gast-)Professuren an, ohne jedoch an einem Ort vollständig zufrieden zu sein. Längere Zeit verbrachte er in London und Berlin, wo er ebenfalls mit den Studentenbewegungen in Kontakt kam. Weitere Stationen waren Auckland, Kassel, Sussex und Yale.
Der Anarchist in der Wissenschaftstheorie

In den 1960er Jahren hatte Feyerabend einige unkonventionelle Ideen publiziert, sich langsam vom kritischen Rationalismus gelöst und sich in Berkeley mit seinem unsteten Lehrstil einige Feinde gemacht. Insgesamt hatte er sich jedoch eine Reputation als ernstzunehmender und geachteter Wissenschaftstheoretiker erarbeitet. Die folgenden Jahre sollten diese Situation verändern. 1970 veröffentlichte Feyerabend einen Aufsatz mit dem Titel Against Method, in dem er die bekannten wissenschaftstheoretischen Methodologien angriff.[9] Seine Position entwickelte sich von einem liberalen und realistischen Methodenpluralismus zu einem relativistischen Angriff auf die Methodologie im Allgemeinen.

Mit seinem Freund Imre Lakatos plante Feyerabend eine gemeinsame Publikation zur Methodendebatte in der Wissenschaftstheorie. Lakatos sollte die Methode der Falsifikation gegen Feyerabends wütende Attacken auf jede Form von methodologischen Regeln verteidigen. Lakatos verstarb allerdings 1974 und Feyerabend veröffentlichte seine Kritik unter dem Titel Against Method. Outline of an anarchistic Theory of Knowledge als Monographie.[10] Das Buch machte Feyerabend mit dem Slogan „anything goes“ über die Grenzen der Wissenschaftstheorie bekannt. In einer der positiveren Rezensionen des Buches finden sich häufig angeführte Bedenken: „Wider den Methodenzwang ist ein gutes Buch, vielleicht sogar ein großes. Es ist voll mit Widersprüchen, Über- und Untertreibungen und genügend Ad-hominem-Angriffen, um sogar dem liberalsten Studenten einen rhetorischen Hirnschlag zu verpassen.“[11]

Plötzlich fand sich Feyerabend in der Rolle des Hauptgegners der etablierten wissenschaftsphilosophischen Ansätze wieder. Er hatte offenbar nicht mit einer so breiten und heftigen Reaktion gerechnet und empfand die oft scharfe Ablehnung seines Werkes als verletzend: „Mein Privatleben war ein Scherbenhaufen, ich war ohne Schutz. Ich habe oft gewünscht, daß ich dieses verfluchte Buch [englisch: „fucking book“] nie geschrieben hätte.“[12] Als Reaktion auf die Kritik entstand Erkenntnis für freie Menschen, ein Buch, das selbst wiederum scharfe Angriffe und ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Relativismus enthielt. Zudem vertiefte Feyerabend seine politischen Überlegungen, die gegen die Macht moderner Technik und Wissenschaft gerichtet waren.
Späte Jahre

Feyerabends späte Jahre werden von ihm selbst als seine glücklichsten beschrieben. Über die 1980er Jahre lehrte Feyerabend abwechselnd in Berkeley und an der ETH Zürich, eine Situation, die er sehr genoss. Zudem lernte er 1983 Grazia Borrini bei einer Vorlesung kennen. Sie heirateten sechs Jahre später und blieben bis zu Feyerabends Tod zusammen. Es war Feyerabends vierte Ehe.

Nach dem Erdbeben von San Francisco 1989 zog sich Feyerabend endgültig aus Kalifornien zurück, ein Jahr später wurde er auch an der ETH Zürich emeritiert. „Ich vergaß die 35 Jahre meiner akademischen Karriere fast so schnell wie ich den Militärdienst vergessen hatte. Heute fällt es mir schwer zu glauben, daß ich noch vor fünf Jahren an zwei wissenschaftlichen Institutionen, einer in Europa, einer in Kalifornien, unterrichtet habe.“[13] In den 1980er und 1990er Jahren hat Feyerabend eine große Zahl an Aufsätzen publiziert, seine letzte große Arbeit sollte die Autobiographie Zeitverschwendung (Originaltitel: Killing Time) werden, an der er bis kurz vor seinem Tode schrieb. 1993 wurde bei Feyerabend ein Hirntumor diagnostiziert; am 11. Februar 1994 starb er in einer Klinik am Genfersee. Er erhielt ein ehrenhalber gewidmetes Grab auf dem Südwestfriedhof (Gruppe 10A, Reihe 3, Nummer 17) in Wien. Im Jahr 2016 wurde der Asteroid (22356) Feyerabend nach ihm benannt.[14]
Wissenschaftstheoretische Ansichten

Zu Beginn seiner wissenschaftstheoretischen Laufbahn vertrat Feyerabend die Ansichten Karl Poppers bzw. des kritischen Rationalismus. Seine Beiträge kritisierten den von positivistischer Seite behaupteten Dualismus von Theorie- und Beobachtungssprache und die Annahme, es gebe atheoretische, d. h. nicht theoriegetränkte Beobachtungsbegriffe.[15] Aus dem Erfordernis kontra-induktiver und kontra-intuitiver Widerlegungsversuche leitete er ab, dass die Prüfung durch alternative Theorien einen Theorienpluralismus benötige.[16]

Um 1968 radikalisierte sich Feyerabends Wissenschaftsauffassung; fortan verstand er bestimmte Vernunftskriterien nur noch als eine mögliche Alternative unter vielen („anything goes“). Nach dieser wissenschaftstheoretischen Katharsis trat Feyerabend als Kritiker des Rationalismus auf, insbesondere der vorherrschenden Wissenschaftstheorie und Methodologie. So bezeichnete er etwa den kritischen Rationalismus zuweilen als „Law-and-Order-Rationalismus“. Feyerabend rebellierte gegen einen von ihm wahrgenommenen orthodoxen Dogmatismus der Wissenschaft, wobei er bewusst provokativ äußerte, Regentänze seien genauso gut wie Wettervorhersagen, Wahlprognosen nicht besser als Astrologie. Feyerabend sah Wissenschaft, neben beispielsweise Religion oder Kunst, nur als eine von vielen Möglichkeiten, Erkenntnis zu gewinnen.[17] Den verschiedenen Zugängen zur Wahrheit eine feste Wertigkeit zuzuordnen, ist nach Feyerabend nicht möglich, teilweise auch deswegen, weil diese Wahrheitszugänge untereinander inkommensurabel seien.

Nach Feyerabend lässt sich aus der Wissenschaftsgeschichte der Schluss ziehen, dass die Praxis des Erkenntnisgewinns und der Erkenntnisveränderung in oftmals irrationaler und anarchischer Weise bestehende wissenschaftstheoretische Grundsätze verletzt hat und eben darum erfolgreich war. Feyerabend betont die Bedeutung von Intuition und Kreativität als Voraussetzung des Erkenntnisgewinns und Erkenntnisfortschritts, beide dürften nicht durch eine bestimmte dogmatische Rationalität und wissenschaftstheoretisch-methodologische Regeln und Zwänge, die ihrerseits nicht sakrosankt seien, sondern vielmehr im Erkenntnisprozess einem Wandel unterlägen, nutzlos und in irreführender Weise eingeschränkt werden. So prägte er den Begriff der Anti-Regel, die eine Regel bezeichnen soll, die der Induktion widerspricht. Der Wissenschaftler soll sich nicht scheuen, methodische Regeln aufzustellen, die zu Hypothesen führen, die anerkannten Theorien und beobachtbaren Tatsachen widersprechen. Für diese radikale Linie Feyerabends gab es in der Wissenschaftsgeschichte bereits Anknüpfungspunkte, etwa David Brewster, als er sich 1831 kritisch mit der Methodologie von Francis Bacon auseinandersetzte:

„The process of Lord Bacon was, we believe, never tried by any philosopher but himself. … This example, in short, of the application of his system, will remain to future ages as a memorable instance of the absurdity of attempting to fetter discovery by any artificial rules.“[18]

Feyerabend forderte eine scharfe Trennung von Staat und Wissenschaft, darüber hinaus wandte er sich gegen jeden Überlegenheitsanspruch von Wissenschaftlern gegenüber „Normalbürgern“. Sein Ziel war eine freie Gesellschaft, in der Bürger und Politiker direkt, ohne weitere administrative Umwege über abstrakte Theorien, am Erkenntnisprozess teilhaben. Eine objektive, von Lebens- und Erfahrungspraxis in einer freien Gesellschaft abgetrennte (und damit die bislang herrschende) Rationalität – in Form der Logik, Wissenschaftstheorie und bestimmter Sozialtheorien – sollte durch eine Beteiligung der Bürger ersetzt werden.
Feyerabends Kritik am Kritischen Rationalismus

Feyerabend vertritt eine andere Auffassung des Begriffs „rational“ als Popper. Nach Feyerabend funktioniert auch die Wissenschaft anders, als Poppers methodologische Untersuchungen dies nahelegten: Wissenschaftler stellen selbst fest, nach welchen Maßstäben eine bestimmte Wissenschaft abzulaufen hat, und wann es erforderlich ist, nicht nur Theorien, sondern auch methodologische Grundsätze und Regeln abzuändern oder auszuwechseln. Feyerabend liest die Wissenschaftsgeschichte gegen Poppers „Strich“; er belegt an vielen Beispielen, dass sich Wissenschaftler in Wirklichkeit häufig nicht an feste Regeln halten und dennoch oder gerade deswegen zum Erfolg gelangen. Besser, als sich auf die Schaffung einer bestmöglichen Methodologie zu konzentrieren, sei es demnach, sich grundsätzlich opportunistisch zu verhalten, überspitzt formuliert bedeutet das: Alles geht! Feyerabends Anarchismus verkündet nicht die Regellosigkeit oder das Chaos als Zielsetzung, sondern fordert neben einem Theorienpluralismus genauso einen Pluralismus der Methoden unter der Flagge eines Methodenanarchismus.

Feyerabend lehnt Poppers Präokkupation mit dem Abgrenzungsproblem ab als direkten Weg in den Dogmatismus:

„Kein Rationalist, kein kritischer Rationalist besitzt eine Einsicht in die Grenzen der Wissenschaften – dazu müsste er ja wissen, was außerhalb der Wissenschaften vorgeht, er müsste Mythen kennen, müsste ihre Funktion verstehen […] Man zeige einem kritischen Rationalisten einen Gegenstand, der außerhalb seiner Erfahrung liegt – damit kann er gar nichts anfangen, er benimmt sich wie ein Hund, der seinen Herrn in ungewöhnlichen Kleidern sieht; er weiß nicht, soll er ihn beißen, soll er davon laufen, oder soll er ihm das Gesicht lecken. Das ist auch der Grund, warum kritische Rationalisten an den Grenzen der Wissenschaft zu schimpfen beginnen – für sie ist das Ende ihres Glaubens erreicht und das einzige, was sie sagen können, ist: ‚irrationaler Unsinn‘ oder ‚ad hoc‘ oder ‚unfalsifizierbar‘ oder ‚degenerierend‘ – Bezeichnungen, die genau denselben Zweck haben wie die früheren Bezeichnungen ‚häretisch‘ etc. etc.“[19]
Antwort des kritischen Rationalismus auf Feyerabends Kritik
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Re: METAPHYSISCHE MONOLOGE

Beitragvon Ralfchen » 18. Apr 2018, 14:22

Nach David Miller merkt Feyerabend nicht, wie sehr seine Kritik in Wirklichkeit mit dem Kritischen Rationalismus konform geht, und ihm gar nicht widerspricht.[20] Feyerabend übersieht demnach, dass das Ziel von Methoden im kritischen Rationalismus überhaupt nicht die Begründung einer Wahl von Theorien oder Methoden ist, also keine Theorien oder Methoden durch Grenzziehungen von der Erörterung ausgeschlossen werden sollen. Er liegt also zwar insofern richtig, als die Wahl einer Methode nicht begründet werden kann, er liegt aber falsch in der Annahme, dass sie daher alle gleichrangig sein müssen. Denn die Wahl einer Methode hat objektive Konsequenzen, weil die Methode Probleme, die sie lösen soll, gemäß ihren eigenen Maßstäben besser oder schlechter löst. Die Methode von Versuch und Irrtum, die nichts zu begründen versucht, funktioniert daher ebenso bei der Methodenauswahl und ist dabei auch auf sich selbst anwendbar. Performative Widersprüche treten nicht auf, weil Ziel nicht Selbstbegründung ist, sondern Selbstkritik.

Tatsächlich vertritt Feyerabend gemäß Miller selbst eine ähnliche Position, geht aber so weit, auch Methoden zulassen zu wollen, die sich gegen die Logik stellen und somit nur schwer zu kritisieren und auszusortieren sind, wenn sie fehlschlagen. In diesem Punkt unterscheidet sich Feyerabends Methodenanarchismus vom kritischen Methodenpluralismus des kritischen Rationalismus. Miller ist der Ansicht, dass Feyerabend kein wirkliches Argument gegen die Logik hat und – frei nach seinen eigenen Worten – ein Dieb ist, der seinem Diskussionsgegner erst die Logik stiehlt, um den Bestohlenen dann dafür zu kritisieren, dass er sie nicht mehr besitzt.


Werke und Schriften


Zur Theorie der Basissätze. Universität Wien, Diss., 1951 Katalogzettel Universitätsbibliothek Wien
Probleme des Empirismus I. In: Robert G. Coldny (Hrsg.): Beyond the Edge of Certainty, Prentice-Hall, Englewood Cliffs 1965
Wider den Methodenzwang. Suhrkamp (stw 597), Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-518-28197-6
Erkenntnis für freie Menschen. Suhrkamp (es 1011), Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-518-11011-X
Wissenschaft als Kunst. Suhrkamp (es 1231), Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-11231-7
Zeitverschwendung (Autobiographie). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-40693-0 (als Taschenbuch: ISBN 3-518-39222-0)
Briefe an einen Freund. Hg. v. Hans Peter Duerr. Suhrkamp (es 1946), Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-11946-X
Widerstreit und Harmonie. Trentiner Vorlesungen. Hg. von Peter Engelmann. Passagen, Wien 1998, ISBN 3-85165-305-X
Conquest of Abundance. Postum veröffentlicht von Bert Terpstra. Chicago 2001, ISBN 0-226-24534-9
Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht. 1. Auflage. Passagen Verlag, Wien 2005, ISBN 978-3-85165-633-6 (Buchvorschau bei Libreka – Originaltitel: Conquest
of Abundance. Übersetzt von Volker Böhnigk und Rainer Noske).
(mit Hans Albert): Briefwechsel, Bd. I: 1958–1971, hgg. v. Wilhelm Baum, Kitab, Klagenfurt / Wien 2008, ISBN 978-3-902585-17-2.
(mit Hans Albert): Briefwechsel, Bd. II: 1972–1986, hgg. v. Wilhelm Baum u. Michael Mühlmann, Kitab, Klagenfurt/Wien 2009, ISBN 978-3-902585-27-1
Helmut Heit und Eric Oberheim (Hrsg.): Naturphilosophie. 1. Auflage. Suhrkamp, 2009, ISBN 3-518-58514-2. Veröffentlichung eines erst länger nach seinem
Tod im Philosophischen Archiv der Universität Konstanz gefunden Manuskripts aus den 70er-Jahren.
Christian Augustin (Hg.): Aber ein Paul hilft doch dem Anderen. Briefwechsel Paul Feyerabend – Paul Hoyningen-Huene (1983–1994). 1. Auflage. Passagen
Verlag, 2010, ISBN 3-851-65920-1. Veröffentlichung des Briefwechsels sowie Kommentare des Hg. zur Feyerabend-Biographie incl. unveröffentlichter
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Bewußtsein und künstliche Intelligenz..

Beitragvon Ralfchen » 25. Apr 2018, 12:55


Bewußtsein und künstliche Intelligenz..


Philosophers and scientists remain uncertain about how consciousness emerges from the material world, but few doubt that it does. This suggests that the creation of conscious machines is possible. Suppose, as many philosophers and scientists believe, that consciousness arises in a sufficiently complex system that processes information. There is no reason to think that such a system need be made of meat. Conscious minds are most likely platform-independent — ultimately the product of the right software.

Philosophen und Wissenschaftler sind sich unsicher darüber, wie das Bewusstsein aus der materiellen Welt hervorgeht, aber nur wenige bezweifeln das es so entsteht. Dies deutet darauf hin, dass die Schaffung von bewussten Maschinen möglich ist. Nehmen wir also an, dass viele Philosophen und Wissenschaftler glauben, dass das Bewusstsein in einem ausreichend komplexen System entstehen würde, das Informationen verarbeitet. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass ein solches System aus Fleisch und Blut bestehen muss. Bewusstsein oder bewusste Entititäten sind höchstwahrscheinlich plattformunabhängig - letztlich das Produkt der richtigen Software.
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CROWN OF THE MIND

Beitragvon Ralfchen » 25. Apr 2018, 16:05

CROWN OF THE MIND

GRAFIC BY RALFCHEN 72x55 cm (PSYCHEDELIC ART)
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Re: METAPHYSISCHE MONOLOGE

Beitragvon Ralfchen » 29. Apr 2018, 00:24

Lernt TESS kennen hier...

https://www.nytimes.com/video/science/1 ... anets.html
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Re: METAPHYSISCHE MONOLOGE

Beitragvon Ralfchen » 29. Apr 2018, 02:04

FORTSETZUNG VON BEWUSSTSEIN UND AI

It seems only a matter of time before we either emulate the workings of the human brain in our computers or build conscious minds of another sort. But how will we know if our machines become conscious? Descartes argued that one’s own consciousness is beyond any possibility of doubt. In the case of others, we’re never absolutely sure. Many of us have entertained, if only for a moment, the idea that everyone else might be a zombie: laughing, crying, complaining, rejoicing, but with no one home. Perhaps scientists will eventually discover the signature of consciousness, and then we will be able to test for it in our robots, as well as in animals and one another. But it is certain that we will build machines that seem conscious long before we arrive at that point. Think not of a machine with visible wires, cartoonish eyes and a voice that sounds like Siri but of a beautiful stranger who engages you in intelligent conversation and who may be more aware of your emotions than your spouse or best friends ever were. It would be irresistible to see this creature as a person, whatever your philosophical views and regardless of what its creators told you about how it was built. Kant had odd views about animals, seeing them as mere things, devoid of moral value, but he insisted on their proper treatment because of the implications for how we treat one another: “For he who is cruel to animals becomes hard also in his dealings with men.” We could surely say the same for the treatment of lifelike robots. Even if we could be certain that they weren’t conscious and couldn’t really suffer, their torture would very likely harm the torturer and, ultimately, the other people in his life.

Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis wir entweder die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in unseren Computern nachahmen oder bewusste Gedanken einer anderen Art aufbauen. Aber wie werden wir wissen, ob unsere Maschinen bewusst werden? Descartes argumentierte, dass das eigene Bewusstsein über jeden Zweifel erhaben sei. Bei anderen sind wir uns nie ganz sicher. Viele von uns haben, wenn auch nur für einen Moment, die Vorstellung, dass alle anderen ein Zombie sein könnten: lachend, weinend, klagend, jubelnd, aber mit niemandem zu Hause. Vielleicht entdecken Wissenschaftler schließlich die Signatur des Bewusstseins, und dann können wir sie in unseren Robotern, aber auch in Tieren und untereinander testen. Aber es ist sicher, dass wir Maschinen bauen werden, die lange bevor wir an diesem Punkt ankommen, bewusst erscheinen. Denken Sie nicht an eine Maschine mit sichtbaren Drähten, Cartoon-Augen und einer Stimme, die wie Siri klingt, sondern an einen schönen Fremden, der Sie in intelligente Gespräche verwickelt und der sich Ihrer Emotionen mehr bewusst ist als Ihr Ehepartner oder Ihre besten Freunde jemals waren. Es wäre unwiderstehlich, diese Kreatur als Person zu sehen, unabhängig von Ihren philosophischen Ansichten und unabhängig davon, was ihre Schöpfer Ihnen darüber erzählten, wie sie gebaut wurde. Kant hatte merkwürdige Ansichten über Tiere, sah sie als bloße Dinge, ohne moralischen Wert, aber er bestand auf ihrer richtigen Behandlung wegen der Implikationen für den Umgang miteinander: "Denn wer zu Tieren grausam ist, wird auch im Umgang mit Menschen hart." Das Gleiche gilt sicherlich auch für die Behandlung von lebensechten Robotern. Selbst wenn wir sicher sein könnten, dass sie nicht bewusst waren und nicht wirklich leiden konnten, würde ihre Folter dem Folterer und letztlich den anderen Menschen in seinem Leben sehr wahrscheinlich schaden.

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